Lob der Dunkelheit

Morgenandacht
Lob der Dunkelheit
02.12.2015 - 06:35
18.06.2015
Pastor Matthias Viertel

Was ist eigentlich das Wichtigste am Advent? Natürlich gibt es entsprechende Umfragen. Und die zeigen, dass Gottesdienste und Andachten dabei nicht gerade an erster Stelle stehen. Populärer ist das Atmosphärische, also der Schmuck in den Straßen und Häusern, das duftende Tannengrün, die Weihnachtsmärkte, Plätzchen und Lebkuchen. Das alles ist schon wichtig, aber ganz vorne kommt immer das Licht, vor allem das Licht der Kerzen. Kerzen gibt es zwar das ganze Jahr über, aber jetzt im Advent sind sie geradezu unersetzlich. Sich bei Kerzenschein zusammensetzen, Musik hören oder nur still in das flackernde Licht hineinschauen, das sind die Voraussetzungen, damit adventliche Stimmung aufkommen kann.

 

Aber warum haben die Kerzen für uns so eine große Bedeutung? Auf der einen Seite ist es einfach das Licht. Jetzt werden die Tage immer kürzer, vor allem aber immer dunkler. Im Dezember scheint es mitunter so, als habe die Sonne verschlafen und wolle gar nicht mehr aufstehen, wer mag es ihr auch verdenken, bei dieser Kälte, erst recht, wenn es regnet oder schneit. Bis Mittag ist es grau und ab Nachmittag dämmert es schon wieder. Menschen brauchen das Licht zum Leben, und die Kerzen liefern es in dieser düsteren Zeit.

 

Das ist nicht falsch, aber ganz stimmig ist die Erklärung auch nicht. Immerhin leben wir in einer voll illuminierten Welt. Neonbeleuchtung erhellt unsere Städte, jede Straße, alle Plätze sind hell ausgeleuchtet. Vorgärten sind mit Bewegungsmeldern ausgestattet, und gleißendes Flutlicht schaltet sich automatisch ein, sobald sich irgendein Leben bemerkbar macht. Richtig dunkel wird es so gut wie nie. Und wenn man den Planeten Erde vom Weltall aus betrachtet, wirkt er rundherum auch bei Nacht gut ausgeleuchtet.

 

Für die Wohnungen gibt es Deckenfluter, die immer brennen, wenn es zu dunkel ist. Wer kommt da schon auf die Idee, ausgerechnet Kerzenlicht zu nutzen, um den Raum zu beleuchten? Aber warum machen wir es dann?

 

Ich denke, es ist genau anders herum: Kerzenlicht ist so beliebt, weil es ermöglicht, die Dunkelheit wahrzunehmen. Wer eine Kerze anzündet, tut das nicht, um den Raum zu erhellen, sondern eher im Gegenteil, um die Dunkelheit im Raum zu spüren zu können. Und dieses Bedürfnis, Dunkelheit zu erfahren, hat triftige Gründe.

 

Dunkelheit wirkt bedrohlich, schon ganz instinktiv. Man geht nicht gerne allein im Dunkeln durch die Stadt, wittert überall Gefahren und ist heilfroh, möglichst schnell wieder auf gut beleuchtete Plätze zu kommen. Auch die eigenen Ängste werden als dunkle Abgründe in der Seele empfunden. Dunkle Gedanken sind es, die die Seele belasten. Finster Gestalten, die sich in die Träume drängen... Wie kann man sich da mit der Dunkelheit anfreunden? Und die Ängste loswerden, die seit Urzeiten mit der Sphäre des Dunklen verbunden werden?

 

Eine Möglichkeit ist es, sich der Dunkelheit zu nähern und ihr ins Gesicht zu schauen. Und genau dafür sind Kerzen so gut zu gebrauchen. Sie helfen dabei, das schummrige Licht nicht als bedrohlich sondern als gemütlich zu empfinden. Kerzen geben Gelegenheit, die Dunkelheit auszuhalten und dabei die Gedanken frei von Angst schweifen zu lassen.

 

Der Adventskranz ist dafür besonders gut geeignet. Gerade weil er am Anfang noch sehr dunkel ist. Mit dem ersten Advent brennt zuerst nur eine Kerze, und dann wird mit jedem Adventssonntag eine weitere Kerze entzündet. Am Anfang hilft der Adventskranz dabei, die Dunkelheit auszuhalten, und das ist ganz besonders wichtig. Denn für die Finsternis in den Gedanken gibt es keinen Schalter, den man einfach umlegen könnte. Erst schrittweise kommt dann immer mehr Licht hinzu und vertreibt die Dunkelheit. So findet das Licht ganz allmählich und behutsam Eingang in das Leben, und zwar sowohl in die Zimmer wie auch ins Gemüt. Es vertreibt alle Düsterkeit, die der äußeren Welt und jene der trüben Gedanken und schafft neuen Glanz.

18.06.2015
Pastor Matthias Viertel