Bilder des Jahres

Morgenandacht
Bilder des Jahres
05.09.2020 - 06:35
31.08.2020
Titus Reinmuth
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Jeden Tag um die gleiche Zeit zieht sie los und macht ein Foto. Immer um 17 Uhr. Immer an derselben Stelle. Sie zückt ihr Handy und macht ein Foto. Zwei Feldwege kreuzen sich, halb links sieht man eine kleine Baumgruppe, ganz im Hintergrund die Landstraße, ansonsten freies Feld. Anfangs wartet sie immer noch, dass auch keiner durchs Bild läuft. Aber irgendwann findet sie es interessant, wirklich immer um die gleiche Zeit das Bild zu machen. Mal läuft der Nachbar vorbei mit den drei großen Hunden. Dann das junge Paar, sie hoch schwanger mit dickem Bauch. Die Jungs von der anderen Straße: cool auf ihren Longboards. Jeden Tag das gleiche Motiv, ein ganzes Jahr lang. Jetzt ist das Jahr um, und sie blättert durch die Bilder. Faszinierend. Im Frühling tragen die Bäume ihre Blätter, die Felder sind saftig grün. Dann kommt das junge Paar wieder ins Bild – mit Kinderwagen. Im Sommer wiegt sich das Getreide in der Sonne, später liegen die großen runden Strohballen auf den Feldern. Der ältere Mann mit der Mütze, im Frühjahr noch ab und zu auf dem Bild, taucht gar nicht mehr auf. Was ist wohl mit ihm? Ein Fotoalbum der besonderen Art. Der Lauf der Natur ist zu sehen. Das Schicksal von Menschen blitzt auf. Werden und Vergehen.

Das kann man auch zuhause machen. Vielleicht immer beim Abendessen. Und dann entsteht so ein Fotoalbum über ein ganzes Jahr. Manches am Tisch wird immer gleich aussehen: Teller, Besteck, Gläser. Die bewährten Tischsets. Brot, Käse, Wurst, ein Salat. Übers Jahr gesehen tauchen besondere Stationen auf. Ein Blumenstrauß. Jemand hat Geburtstag. Eine große Tafel. Besuch ist da. Die Jahreszeiten auch hier: Mal ist es eher dunkel, die große Lampe über dem Tisch macht künstliches Licht, mal scheint es hell von draußen rein. Dann plötzlich ein Gedeck weniger. Die älteste Tochter geht für ein Jahr ins Ausland. Dann sechs Wochen lang nur noch zwei Sets. Das war die Zeit, als Vater ins Krankenhaus musste und dann in die Reha kam. Dann wieder Blumen, er ist zurück. Die Wechsel des Lebens, erzählt von einem Tisch. Möglich wäre es.

Vierzig Jahre lang zog das Volk Israel durch die Wüste. Gäbe es Fotos, auch hier sähe vieles immer gleich aus, obwohl die Menschen unterwegs sind. Wüstensand, ab und zu Sträucher, ein Wasserloch, Felsen, dann wieder Wüste. Männer und Frauen auf dem Weg durch ihr Leben. Mehr Strapaze als Spaziergang. Ich stelle mir vor: Einmal ist Mose auf dem Bild, ein alter Mann inzwischen. Er hat sie alle geführt, erst raus aus Ägypten, dann durch die Wüste. Es gab Rückschläge, Widerstände, Streit. In seinem Gesicht sieht man die Spuren seiner ganzen Lebenserfahrung. Dann kommt plötzlich ein Fluss ins Bild. Äcker, Getreide, Weinberge, Häuser. Das versprochene neue Land? Mose sieht nachdenklich aus. Am nächsten Tag ist Josua auf dem Bild. Ein junger Mann, aufgewachsen in der Wüste. Er kennt gar nichts anderes. Ein bisschen ängstlich sieht er aus. Er wird von Mose gesegnet. Er soll das Volk über den Fluss führen in das neue Land. Die Bibel hält fest, was Gott zu ihm sagt: Sei getrost und unverzagt. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.

Wenn mein Vater oder meine Mutter zu Besuch sind, blättern wir manchmal durch die Fotoalben, die sonst einfach nur im Regal stehen. Manchmal sind wir fröhlich dabei, manchmal werden wir etwas melancholisch. Wir sehen, was sich verändert hat, plötzlich oder nach und nach. Ist Gott auch darauf zu sehen? Natürlich nicht so direkt. Aber er war da, da bin ich mir sicher. Und manchmal schaue ich in Gedanken auf die Bilder der nächsten Monate, Bilder vom Herbst, der kommen wird. Von den Schwellen, die vielleicht zu überwinden sind, von den Grenzen, an die ich stoßen werde. Die einen fangen etwas an, die andern lassen etwas los. Vielleicht steht ein Fest im Kalender und der große Tisch freut sich schon. Vielleicht geschieht etwas, womit niemand gerechnet hat und das macht Angst. Gott ist nicht auf den Fotos. Aber ich bin mir sicher, er ist da und sagt: Hab Vertrauen. Sei getrost und unverzagt. Ich bin an deiner Seite.

31.08.2020
Titus Reinmuth