Scham

Morgenandacht
Scham
09.11.2020 - 06:35
08.11.2020
Anette Bassler
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Scham ist eines der wuchtigsten Gefühle: Der Kopf steht in Flammen, ich möchte weglaufen, ich kann aber nicht. Es zieht mich nach unten. Das Körpergefühl der Scham ist das sprichwörtliche „im Boden versinken“.

 

Der Schöpfungsmythos von Adam und Eva erzählt davon, wie Scham entsteht. In der Hoffnung zu sein wie Gott, beißen sie in die verbotene Frucht des Baumes der Erkenntnis. Aber ihre erste Erkenntnis ist, dass sie eben nicht grandios, sondern nackend dastehen. Ihre Scham ist nicht sexuelle Prüderie. Adam und Eva werden ihrer nackten menschlichen Existenz gewahr und fühlen sich umfassend entblößt. Voller Scham verhüllen sie sich, sie gehen in Deckung, sie verstecken sich.

 

Heute ist der 9. November - ein Tag, an dem viel von Scham gesprochen wird. Dieser Gedenktag erinnert an Sternstunden und an Schamstunden deutscher Geschichte. Er erinnert an die Tage, als die Deutschen die Demokratie erstritten. Er erinnert aber auch an die Tage, als sie gegen die Demokratie geputscht, die Synagogen angezündet und Juden ermordet haben. Wenn an diesem Tag Stolz aufkommt, dann ist es keiner mit dicker Backe, sondern einer mit errötendem Gesicht. Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, sagte: „Das Wort ‚Kollektivschuld‘ ist eine zu simple Vereinfachung. Aber etwas wie eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben.“ 

 

Seitdem ist die Scham fester Bestandteil der offiziellen Reden am 9. November. Mit „Scham und Trauer“, mit „Scham und Abscheu“, mit „Scham und Schrecken“ erinnern wir uns, heißt es in stehender Wendung. Damit bekräftigen die Redner: Wir sind nicht raus aus der Haftbarkeit. Die Verbrechen von damals nehmen uns in die Verantwortung. Wenn wir auch persönlich keine Schuld haben, sind wir es den Opfern doch schuldig, sie nicht zu vergessen. Für uns verbietet sich jede nationale Grandiosität. Das Anliegen ist gut.

 

Es gibt neben der Scham in offiziellen Reden immer noch die unmittelbar gefühlte Scham auch bei denen, die persönlich nichts Böses getan haben: wenn man erfährt, dass der geliebte Opa ein Nazi war. Oder wenn man vor Menschen steht, die berichten, wie sie hier, an diesem Ort, gequält wurden. Oder wenn mir eine Frau aus der jüdischen Gemeinde erzählt, wie viel Angst sie momentan hat. Dies ist keine Scham auf den Lippen, sondern eine Scham des Herzens.

 

Solche Scham kann mir helfen, dass ich mich wieder stärker meiner Werte besinne; dass ich mich anstrenge es besser zu machen, umso mehr als ich weiß, dass die geschehenen Verbrechen nie wiedergutzumachen sind. Dann ist Scham ein guter und kraftvoller Ansporn.

 

Aber Scham wirkt leider oft gegenteilig. Die Geschichte von Adam und Eva lehrt: Wer sich schämt, hat den Drang wegzulaufen und sich zu verstecken. Man möchte den kritischen Blicken entkommen. Man möchte am liebsten gar nicht mehr in Kontakt kommen mit dem, was irgendwie mit dem Versagen zu tun hat. Man fängt mit Ausreden an wie Adam in seinem Versteck: Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich bin verführt worden. Die Frau war es.

 

Menschen, die sich schämen, werden oft nicht zu besseren Menschen. Sie reden sich heraus, sie geben die Beschämung weiter an andere, gehen auf Abwehr, plustern sich selbstgerecht auf, münzen ihre Scham in Arroganz um und legen sich eine feindselige Haltung an, die sagt: „Dir zeig ich es, bevor du mit dem Finger auf mich zeigst.“

 

Ich will nicht in einem Land leben, in dem Politiker peinliche und schamlose Vogelschissreden absondern. Da überkommt mich als Bürgerin ein Fremdschämen, dass ich im Boden versinken möchte. Ich wünsche mir aber auch ein Erinnern ohne pathetische Beschwörung von Scham. Die hilft nicht. Gut tut: aufrichtige Trauer. Gut tut nachdenkliche Stille. Gut tut Erinnerung mit einfühlsamem Herzen. Gut tut eine behutsame, ehrliche, klare Sprache. Gut tut die Erkenntnis, dass jeder Einzelne, jede Einzelne hier und jetzt etwas für die Demokratie und für die Menschlichkeit tun kann - unverschämt viel, wirklich!

08.11.2020
Anette Bassler