Sanduhr

Morgenandacht
Sanduhr
18.05.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrerin Sigrun Welke-Holtmann

Konzentriert schaut der Junge auf die Sanduhr, die vor ihm steht. Drei Minuten sollen es sein, die hier langsam ihren Weg durch die Enge in der Mitte finden. Unaufhaltsam rieselt es, immer im gleichen Tempo und er, er putzt dazu seine Zähne. Wenn er schneller putzt, dann vergeht die Zeit nicht schneller und auch nicht, wenn er intensiver putzt, das hat er längst herausbekommen. Es fasziniert ihn, der Zeit beim Vergehen zuzuschauen. Kontinuierlich wird es oben weniger und unten mehr und in der Mitte rieselt es eben, jedes Sandkorn muss da durch.

 

„Beeil dich“, rufe ich ins Bad hinein, aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er heftet seinen Blick an die Sanduhr und hört erst auf zu putzen, wenn das letzte Korn die Enge passiert hat.

 

Drei Minuten sollen es sein. Ich schnippe die Sanduhr leicht an, damit sie ein wenig schneller läuft und mein Kind ins Bett gehen kann.

 

Doch von meinem Schnippen und intensiven Draufstarren lässt sich die Sanduhr auch nicht beirren. Und je länger ich auf sie schaue, desto mehr erscheint sie mir ein Symbol für das Leben, für die Lebenszeit überhaupt zu sein. Denn sie verrinnt beständig, und in der Mitte ist es ziemlich eng. Du kannst nichts aufhalten, ohne etwas kaputt zu machen und schon gar nicht kannst du etwas rückgängig machen. Ja, und manchmal zerrinnt auch das echte Leben wie Sand zwischen den Fingern.

 

Und doch gibt es einen gravierenden Unterschied: Im echten Leben siehst du nicht, wieviel oben noch drin ist.

 

Wieviel Zeit bleibt mir noch und was erwartet mich? Bleibt alles im Fluss, oder kommt es vielleicht in der Mitte ins Stocken, verstopft die Enge wohlmöglich oder ist der obere Teil gar bald leer?

 

Weil diese Fragen so drängend sind, versuchen wir Menschen immer wieder das Leben vorauszusehen, zu berechnen, es zum vermeintlich Guten zu manipulieren. Doch ist durch gesunde Ernährung und Sport wirklich oben mehr drin?

 

Mir kommen Zeilen aus dem ersten Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth in den Sinn: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

 

Paulus singt in seinem Brief ein Lied von der Liebe. Der Liebe, mit der Gott seine Menschen liebt. Diese Liebe ist langmütig und freundlich, sie eifert nicht, treibt keinen Mutwillen und bläht sich nicht auf. Diese Liebe hört niemals auf.

 

Dieser vollkommenen Liebe stellt er die menschliche Erkenntnis gegenüber, die nur stückweise möglich ist. Noch sehen wir Menschen wie durch einen Spiegel ein dunkles Bild. Noch ist das Glas oben in der Sanduhr trüb und undurchsichtig.

 

Was bleibt mir da übrig?

 

Paulus würde vielleicht eine recht kurze Antwort darauf wagen: Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei – aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

 

Die göttliche Liebe anzunehmen, Korn für Korn, diese Liebe menschlich weitergeben, ohne Gewissheiten und letzten Durchblick. Das ist vielleicht die leichteste und zugleich die schwerste Aufgabe unseres menschlichen Seins.

 

Jedes Sandkorn, jeden neuen Tag annehmen und als Geschenk sehen, ohne dass ich weiß, wieviele noch folgen werden und ohne, dass ich der großen Lebenssanduhr etwas abpressen könnte.

 

Auf meine Spuren im Sand schauen und aus ihnen die Hoffnung auf die Zukunft ziehen.

 

Und vielleicht das trübe Glas ab und zu anschnippen, damit es doch bitte wieder flüssiger läuft.

 

Irgendwann, so verspricht es Paulus, werden wir klar sehen.

 

Das letzte Sandkorn fällt – ohne großes Theater -, der Junge spült seinen Mund aus und geht ins Bett – morgen früh dreht er sie wieder um und das Leben geht weiter.

03.04.2015
Pfarrerin Sigrun Welke-Holtmann