Schmerz übergehen?

Morgenandacht
Schmerz übergehen?
16.05.2017 - 06:35
15.05.2017
Pfarrer Wolf-Dieter Steinmann

Es ist unmenschlich, wenn ein Mensch seinen Schmerz übergehen soll. Damit er funktioniert. Es ist unmenschlich, aber ich fürchte, es wird trotzdem oft verlangt. Von Menschen gefordert, als wäre das völlig normal. Es ist unmenschlich, aber es bleibt auch unsichtbar.

 

Vor unser aller Augen ist so etwas vor gut einem Monat geschehen. Da haben wir sehen können wie unmenschlich es ist, wenn Menschen ihren Schmerz übergehen sollen.

 

Auf Spieler und Begleiter von Borussia Dortmund ist ein Anschlag verübt worden. Gott sei Dank hat es nur zwei Verletzte gegeben. Körperlich Verletzte. Nach den seelisch Verletzten wurde nicht gefragt. Jedenfalls wurden die seelisch verletzten Spieler einen Tag später – ja was - veranlasst, gedrängt, überredet, gezwungen, wieder zu spielen.

 

Sie haben funktioniert, aber dazu mussten sie ihren seelischen Schmerz betäuben, verdrängen, überspringen. Sie hatten nicht „das Glück“ körperlich verletzt zu sein. Da hätten sie vermutlich nicht funktionieren müssen.

 

Das konnte jeder sehen. Aber ich fürchte, heute passiert vielen Menschen ähnliches. Sie funktionieren trotz verletzter Seele. Übergehen ihren Schmerz. Vielleicht wäre besser, sie hielten inne, geschockt wie sie sind, von dem was ihnen widerfahren ist.

 

Vermutlich geht nachher eine 8-jährige Enkelin zur Schule. In den letzten Tagen ist ihr Leben erstarrt, unter dem Tod ihrer Großmutter.

 

Oder ein junger Mann geht zur Arbeit, obwohl es in ihm unsagbar leer ist, und er schwer und geknickt. Und diese beiden sind sicher nicht die einzigen.

 

Es sind so viele, dass es fast schon normal scheint. Ich finde, es bleibt unmenschlich, wenn Menschen ihren Schmerz übergehen und stattdessen funktionieren.

 

Es wäre menschlicher, laut zu sagen, was es ist: „unmenschlich“ und eben nicht „normal“.

 

Das ist beim Anschlag von Dortmund vor einem Monat auch deutlich geworden. Ein Mittel, mit dem Menschen zum Funktionieren gebracht werden, trotz ihrer Schmerzen, ist die Sprache: Der schmerzliche Ausnahmezustand wird einfach umbenannt. Mit Sprache verschleiert. Die seelischen Schmerzen der Spieler werden klein geredet. So klein, dass sie womöglich als „weich“ oder „feige“ dagestanden hätten, wenn sie ihnen Platz eingeräumt hätten.

 

Wie haben alle das Ereignis in Dortmund genannt? „Anschlag auf den Mannschaftsbus“. Als wollten wir glauben, es ginge nur um Sachbeschädigung. Die Justiz ist präziser und wahrer: Sie redet von „versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung“. Das ist der Schmerz, den die Menschen im Bus erlitten haben.

Ich habe die Angst, dass hier das erschreckend Symptomatische liegt. Vermutlich wollten wir zu gern, dass die Spieler spielend funktionieren. Also wird Schmerz verharmlost und das Funktionieren “heilig“ gehalten. Darin liegt für mich das Unmenschliche.

 

Menschlich zu handeln wäre das Gegenteil. So verstehe ich Jesus, wenn er fragt: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und nähme doch Schaden an seiner Seele“.

 

Menschlich ist nicht, das Funktionieren heilig zu halten, sondern unsere Seelen. Und dazu gehört, dass ich erkenne und anerkenne, wie verwundbar wir sind.

 

Wenn die Seele und der innere Mensch wund sind, dann brauchen sie Achtung. Es hilft der Seele nicht, wenn wir sie immer mehr belasten. Es hilft, wenn wir ihren Schmerz beachten und seinen Ursachen nachgehen. Menschlich wäre, wenn Menschen nicht funktionieren müssen wie Spieler. Sondern man ihnen Zeit lässt, Ruhezeit. Auch die Zeit zu erschrecken. Zu spüren, wie es einen erschüttert, wenn wir innerlich getroffen sind.

 

Menschlich ist es, wenn Menschen ihre seelischen Schmerzen nicht allein aushalten müssen, sondern wenn sie dabei gehalten werden. Wenn Menschen da sind, die helfen, ein grausames Spiel anzuhalten. Die mein Heil nicht darin sehen, dass ich schnell wieder funktioniere.

 

Und mir tut es auch gut, wenn jemand mir dann sagt, dass meine Seele bei Gott Halt hat.

15.05.2017
Pfarrer Wolf-Dieter Steinmann