Seelenorte

Morgenandacht
Seelenorte
07.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx

Die Grotte des Heiligen Franziskus in Assisi, Hildegard von Bingens Kloster auf dem Disibodenberg und das Labyrinth in Chartres – das sind nur einige der Kraftplätze, die uns die Psychoanalytikerin Ingrid Riedel[1] in ihrem sehr persönlich geschriebenen Buch vorstellt: „Beseelte Orte“. Orte, die ihrer stimmigen Ganzheit das Gefühl von Ganzheit in ihr selbst geweckt haben. Unwillkürlich habe ich beim Lesen meine eigenen Seelenorte hinzugefügt: die sogenannte Klagemauer in Jerusalem gehört dazu, das Mutterhaus in Kaiserswerth, der Mont St. Michel in der Normandie – und die Tempelanlage in Palmyra.

Ingrid Riedels Buch fiel mir ein, als der IS vor einigen Wochen begann, die antike Stadt zu zerstören. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass wir am Abend unter dem Vollmond über die alte Prachtstraße gingen – aber ich erinnere mich an das Gefühl, noch einmal einzutauchen in die unzerstörte Schönheit des klassischen Altertums, die ich schon als Schülerin liebte. Als ich Studentin war, erzählte mir eine alte Freundin, dass sie vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs durch das damalige Deutschlands gereist war, um ihre heiligen Orte noch einmal zu sehen: den Dom in Königsberg, die Frauenkirche in Dresden, die Festung Marienberg. Ich habe die Geistesgegenwart bewundert, mit der diese junge Frau sich angesichts der Bedrohung ihre Seelenorte in Erinnerung rief.

Was bedeutet schon ein Bauwerk gegen ein Menschenleben, haben mich viele gefragt, als ich um Palmyra trauerte. Orte kann man wieder aufbauen – so wie die Dresdner Frauenkirche. Wenn Menschen verletzt sind und sterben, geht etwas unwiederbringlich zu Ende. Das stimmt. Und dennoch hat sich der Leiter der Antikenverwaltung in Palmyra lieber köpfen lassen, als die Stadt zu verlassen. Solche Plätze sind eben auch Gedächtnisorte, Spiegel unserer Kultur, Räume unsere Träume. Die Seele baut sich die Tempel, um ein Zuhause zu haben.

„Woher mag es kommen, dass wir in den letzten Jahrzehnten eine solche Faszination durch beseelte Orte erfahren?“, fragt Ingrid Riedel in ihrem Buch. Sie meint, es müsse mit einer Art von Heimweh zu tun haben, das viele ergreift. In einer Welt, die sich rasch verändert und uns haltlos hin und hertreibt, suchen wir nach Wurzeln, die über die Lebensabschnitte, ja über unsere individuelle Geschichte hinausreichen. Darum wohl sind vielen auch die Kirchen wieder wichtig geworden, in denen sie einmal getauft, getraut oder konfirmiert wurden. Auch Menschen, die gar nicht Mitglied sind, spenden für die Sicherung der Dächer oder den Erhalt von Orgeln. „Gottes Wort braucht keine Dome“, hat der rheinische Präses Peter Beier in seiner Predigt nach der Renovierung des Berliner Doms gesagt. Wohl wahr – (auch das Judentum hat nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels überlebt, ja, es hat sich vielleicht erst in der Diaspora wirklich entfaltet. Und doch wünscht man sich bis heute an jedem Sederabend: „nächstes Jahr in Jerusalem“.) Gott braucht keine Tempel – aber wir Menschen beten mit dem Leib. Wer schon einmal versucht hat, in Stille und Meditation den Ort aufzusuchen, an dem seine Seele zur Ruhe kommt, der weiß das.

Wir tragen unsere heiligen Orte wie eine Heimat in uns – auch wenn wir sie äußerlich verloren haben. Das wird auch den Flüchtlingen aus Syrien so gehen, wo jetzt auch die ältesten christlichen Klöster dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Mystikerin Theresa von Aquila spricht von der inneren Burg, in der unsere Seele aufatmen kann. Für sie ein Schutzraum mit sieben dicken Mauern wie eine mittelalterliche Kirchenburg. Mit Erstaunen habe ich festgestellt, dass meine innere Kapelle den Kirchen der Mutterhausdiakonie gleicht: ganz ausgeschmückt mit Sternen auf blauem Grund. Ich habe dieses Seelenbild wohl mitgenommen aus meiner diakonischen Arbeit, aus Kaiserswerth, Bethel oder Neuendettelsau. Da zeigt sich nämlich die Ganzheit, von der Ingrid Riedel spricht – die Einheit von Spiritualität und sozialem Engagement, die mir wichtig ist. Eine meiner Wurzeln, die auch im Unterwegssein Halt geben. Dass wir sie nicht vergessen – unsere heiligen Orte – auch das gehört zur Seelenpflege.

 

[1] Ingrid Riedel, Beseelte Orte, Stuttgart 2001

18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx