Sensibel

Morgenandacht
Sensibel
31.03.2021 - 06:35
24.03.2021
Florian Ihsen
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Pornoi oder pornai heißen sie im Neuen Testament. Und die deutschen Bibeln übersetzen: Dir-nen, Huren, Unzüchtige, Lustknaben. Heute heißen sie Sexarbeiterinnen und Sexworker.
Einer von ihnen ist Master André. Er ist Anfang 40, kommt aus Berlin und hat ein eigenes Stu-dio. Persönlich kenne ich André nicht, ich habe von ihm gelesen. „Sexarbeit und Corona“ hieß der Artikel. Seit einigen Jahren räumt André mit Vorurteilen gegenüber Sexarbeit auf. Das älteste Gewerbe der Welt ist zugleich mit großen Vorurteilen und Tabus beladen, bis heute. Nicht alle, aber einige machen diesen Job nicht von Not gezwungen, sondern freiwillig. Hygi-ene ist eine Pflichtnummer, vielleicht mehr als in anderen Jobs. Die Kunden sind keine unzu-rechnungsfähigen Menschen. Vor allem lerne ich an Andrés Berichten: Sexarbeitende müssen sensibel sein. Sensibel für die Bedürfnisse und Stimmungen des Gegenübers. Sensibel auch für die eigenen Grenzen. Sensibel, weil man mit dem Einsatz der ganzen eigenen Persönlichkeit arbeitet. 

Menschenhandel und Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch von Frauen, Männern oder gar Ju-gendlichen – das darf um Gottes willen auf keinen Fall sein. André meint: das ist Sexarbeit nicht automatisch. Und beklagt: auch das Geschäft mit dem Sex leidet durch die Corona-Krise. „Wir sind die Diskriminierung leid“, „Öffnet die Bordelle“, „Rotlicht an“, fordert eine Demo in Köln im vergangenen Sommer, an der auch André teilnimmt. „Hurendemo“ nennt sie sich, und eine Teilnehmerin sagt: „Wir wissen nicht mehr, wie wir die Kühlschränke füllen können.“ 
Andrés Berichte öffnen mir die Augen für eine Berufsgruppe, von der ich kaum Ahnung habe. „Würdest du mich deinen Eltern mit Angabe meines Berufes vorstellen?“ fragt André seine Leser*innen. Ich schlucke innerlich, denn er hat Recht: Ich kann noch so liberal sein. Aber in jeder und jedem von uns steckt ein kleiner Sexarbeitsgegner. Und gleichzeitig vielleicht auch ein Kunde. Heimlich.

Szenenwechsel. Eine Männerrunde. Und Jesus mittendrin. Wenige Tage vor seinem Tod. Auf einmal geht die Tür auf. Sie kommt herein. Alle kennen sie, keiner will sie kennen. Sie geht direkt auf Jesus zu, holt ein Fläschchen sündhaft teures Öl raus und öffnet es. Sofort duftet der ganze Raum. Und die Frau fängt an, Jesus zu massieren, erstmal nur den Kopf. Sie macht es richtig gut, sie kann das. Die anderen wollen sie aufhalten: „Was für eine Frau, was für eine Verschwendung“. Jesus sagt: Bitte lasst sie. Sie tut mir gerade etwas wirklich Gutes. 
Man hat die Frau für eine Sexworkerin gehalten. Vielleicht stimmt das. Warum auch nicht? Sexworker*innen sind Gott manchmal näher als die Theologen und Gutbürgerlichen, sagt Jesus.
Ich stell mir vor, wie das Geld für das Öl zusammen gekommen ist: Wie oft hat die Frau ge-stöhnt, und war eigentlich gelangweilt. Wie oft hat sie sich geekelt vor den Kerlen, wenn sie nicht sauber waren, nach Schweiß und billigem Parfum gerochen haben. Manche haben nicht gezahlt, einzelne sogar zugeschlagen, Respekt Null. Manche wollen einfach nur reden, weinen und in den Arm genommen werden, erzählen, was sie daheim nicht erzählen können. 
Die Frau, die Jesus salbt, ist sensibel. Sie kennt Jesus, vielleicht hat sie ihn auch predigen gehört oder hat sich bei Tisch mit ihm unterhalten. Jetzt spürt sie: Es geht auf sein Ende zu. 
Wenn ich mich in diese Geschichte hineinversetze, dann sehe ich mich eher bei den Männern, die die Frau verurteilen. „Geldverschwendung, und was ist das überhaupt für eine Frau?“. Und dann werden mir meine Vorurteile bewusst. Auch, dass meine Sensibilität sehr begrenzt ist. 
Und ich bete: Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor Dich. Wandle sie in Weite, Gott erbarme dich.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

24.03.2021
Florian Ihsen