Tatort Bibel

Morgenandacht
Tatort Bibel
08.07.2019 - 06:35
13.06.2019
Matthias Viertel
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Es wirkt beinahe wie ein Ritual: Während am Sonntagmorgen in den Kirchen Gottesdienste stattfinden, versammelt sich die Republik am Sonntagabend vor dem Fernseher zum Tatort. Die Städte sind dann nicht mehr so voll, Veranstaltungen sind bemüht, möglichst vor 20 Uhr zu Ende zu gehen. Denn am Sonntagabend, wie zu Beginn der neuen Woche, steht ein ganz spezielles Ritual an: Der Tatort-Krimi, den um die 10 Millionen Zuschauer nicht missen wollen. (1)

Was ist daran so wichtig? Warum sind so viele Menschen von der Begegnung mit dem Verbrechen fasziniert? So sehr, dass man sich das Fernsehprogramm kaum mehr ohne Tatort vorstellen kann und es auch sonst kaum etwas Andres im Fernsehen gibt als Krimis. Und das beschränkt sich nicht nur auf das Fernsehprogramm, genauso sind die Krimis in der Literatur allgegenwärtig.

Auch in der Bibel steht ganz am Anfang ein Kriminalfall: Adam und Eva gefährden ihren Aufenthalt im Paradies, weil sie etwas getan haben, was nicht erlaubt war. Sie stehlen vom Baum eine Frucht, die ihnen verboten war, ausdrücklich. Es ist ein Verstoß gegen das Gesetz, mithin eine Straftat, die üblicherweise schlicht als Diebstahl bezeichnet wird. Adam und Eva nehmen etwas, was ihnen ausdrücklich untersagt war. Und sie tun das im klaren Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun. Es gibt also auch noch einen Vorsatz für das Delikt.

Und dann, nur wenige Kapitel später, wird die Geschichte von Kain und Abel erzählt, jenem ersten Mordfall in der Geschichte der Menschheit. Der Brudermord entpuppt sich als Eifersuchtsdrama, denn Kain fühlte sich benachteiligt, vom Vater nicht genügend beachtet, um das betrogen, was ihm doch so sicher zusteht. Diese emotionale Kränkung, diese Zurücksetzung treibt ihn zum Verbrechen an dem Bruder.

Das erste Buch der Bibel trägt auch den Namen Genesis, es beschreibt die Vorstellungen vom Anfang der Welt. Man kann diese Geschichten auch als anthropologische Quelle lesen, als einen Versuch, das Entstehen des menschlichen Lebens in allen seinen Facetten begreifbar zu machen. Dabei ist dann auffallend, dass am Anfang der Kultur der Menschheit tatsächlich die Verbrechen stehen, Mord und Diebstahl. Und diese Ur-Beispiele von der Übertretung der Gebote setzen eine Kette von Reaktionen frei, sie dauern bis in die Gegenwart an.

Möglicherweise findet sich hier auch eine Erklärung für den auffälligen Drang, im Fernsehen, Kino und Büchern immer wieder Mordfälle und Verbrechen vor Auge geführt zu bekommen. Vielleicht liefern diese alten mythologischen Geschichten eine Erklärung für die Faszination von Tatorten.

Mit den ersten Verbrechen der Menschheit geht das Entstehen von Schuld und Scham einher. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben und trugen fortan das Bewusstsein von Schuld und Scham mit sich. Beides ist in der Gegenwart weitgehend mit einem Tabu versehen. Man spricht nicht gerne von Schuld, und wofür müsste man sich heute eigentlich noch schämen? Vielleicht braucht es tatsächlich allwöchentlich den Tatort, um sich ritualisiert die Schattenseiten der eigenen Existenz vor Augen zu halten. Das Interesse an Krimis ist auch eine Form der Bearbeitung des eigenen Schuldbewusstseins, gerade weil im normalen Leben niemand mehr von Schuld und Scham sprechen mag.

Und noch etwas anderes fällt mir auf. Früher, als die Glaubenswelt noch einigermaßen in Ordnung war, gab es ein verpflichtendes Gebot, nämlich dass am Ende des Krimis der Übeltäter gefasst wird. Inzwischen bleibt das Ende immer häufiger offen, das Happy End wird verweigert. Adam und Eva wurde wegen ihrer Taten aus dem Paradies vertrieben, Kain für den Brudermord mit einem unauslöschlichen Mal gezeichnet. Unsere eigenen Tatorte bleiben offen. Nichts gegen Krimis, aber ich bin froh, dass die sonntäglichen Gottesdienste und mein Glauben mich die eigenen Schattenseiten auch aushalten lässt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169503/umfrage/durchschnittliche-einschaltquote-der-tatort-ermittler/

13.06.2019
Matthias Viertel