Tränen am Fluss

Morgenandacht

Gemeinfrei via pixabay / adege Andreas

Tränen am Fluss
Morgenandacht von Holger Treutmann
26.09.2022 - 06:35
11.06.2022
Holger Treutmann
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Es ist zum Heulen.
Unfassbar, das Fischsterben in der Oder. Tonnenweise sind Fische und Muscheln verendet. Mit Netzen zum Bersten schwer, mit Großgerät mussten die Kadaver abgefischt und entsorgt werden. Noch längst ist nicht klar, welche Kleinstlebewesen und Pflanzen im Flussbett ebenso langfristig geschädigt, wenn nicht gar vernichtet sind. Die genaue Ursache ist bis heute unklar. Deutlich sichtbar und zu riechen ist die ökologische Katastrophe. Wie unmittelbar sie vom Menschen verursacht wurde, lässt sich noch nicht nachweisen. Dass die ungewöhnliche Trockenheit und Hitze zu dieser Katastrophe beigetragen haben, ist unstrittig.
Das Fischsterben in der Oder ist mehr als nur traurig. Es trifft einen Lebensnerv.

Ich kenne viele Leute, die ihren Urlaub auf dem Rad verbringen. Gerade die Radwege an den Flüssen sind besonders beliebt. Keine allzu großen Steigungen, eine Route, die durch die Natur vorgegeben ist und meist schöne Städte, die sich wie an einer Perlenkette aufgereiht zur Rast und Entdeckung anbieten. Die Flüsse sind die Lebensadern eines Landes. Immer schon haben Menschen am Wasser gesiedelt. Dort gab es Trinkwasser, sie konnten den Flusslauf für den Transport nutzen und fanden Fischgründe zur Nahrung. In den frühen Besiedlungsformen markierte der Raum bis zur Biegung des Flusses das angestammte Gebiet. Flüsse geben einem Land Identität. Der Rhein, die Weser, die Elbe, die Oder und nicht zuletzt die Donau prägen ein Heimatgefühl; nicht nur für Menschen, die unmittelbar am und mit dem Fluss leben. Wer also etwas über eine Region erfahren will, ist auf den Radwegen an den Flüssen gut unterwegs.

Die Elbe ist wieder relativ sauber, auch der Rhein schien durch strenge Einleitungsvorschriften für die Industrie das Schlimmste hinter sich zu haben. Wie schnell aber diese Lebensadern einen Infarkt erleiden können, zeigt die Oder.

„An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten.“ So heißt es im 137. Psalm der Bibel. In der jüdischen Alltagsliturgie hat dieser Psalm einen festen Platz. Auch in christlichen Gottesdiensten wird er gesprochen: Am Fluss ermattete Menschen, die weinen. Ströme von Tränen, die der Fluss aufnimmt und fortträgt – wie die Sehnsucht nach Heilung das Herz der Menschen.

Der Psalm wurde im Exil geschrieben. Der jüdische Tempel in Jerusalem war zerstört. Menschen wurden in die Fremde gebracht, sie sollten eine neue Identität annehmen. Euphrat und Tigris, diese Flüsse, die dem Zweistromland ihren Charakter gaben, sollten der verschleppten Bevölkerung aus dem jüdischen Land den Stempel der babylonischen Bezwinger aufdrücken. Es wollte nicht gelingen.

Wie groß ist die Entfremdung heute? Die vielen toten Fische jedenfalls sind befremdlich. Wie eine Warnung. Sie machen die eigene Heimat zur Fremde. Wenn Flüsse nicht mehr nähren, sondern veröden und zur Gefahr werden, halten sie den Menschen einen Spiegel vor. Flüsse müssen fließen. Das sagt schon ihr Name. Pulsierende Adern brauchen Schutz. Sie lassen sich nicht einfach ausbeuten.
Die Tränen am Fluss aber künden von der Sehnsucht. Und wo Sehnsucht ist, da ist Hoffnung.
Wie eine Träne im Gesicht einem Menschen Charakter verleiht und etwas von seiner Identität preisgibt, so könnte der Einsatz für die Bewahrung der Flüsse auch das Heimatgefühl stärken.
Ich glaube, die Sehnsucht nach heiler Natur und nach einem friedlichen Zusammenleben aller Geschöpfe ist stark.  Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach, heißt es im Buch des Propheten Amos (Amos 5, 24): zur Hoffnung für alle, die sich dafür engagieren.

Es gilt das gesprochene Wort.

11.06.2022
Holger Treutmann