Urteilen

Morgenandacht
Urteilen
12.08.2017 - 06:35
12.08.2017
Pfarrerin Lucie Panzer

Ich bin manchmal ein bisschen schnell mit meinem Urteil über andere. Was hat die denn heute an? Wie kann man so herumlaufen. Weiß die denn nicht, was sich gehört? Mein Nachbar kriegt nie Besuch von seinen Kindern – wie kann man so undankbar sein? Warum kümmern die sich nicht um ihren alten Vater? Und das Kind, das seine Mittagspause in dem Imbiss verbringen muss, wo die Mutter arbeitet: Kein Wunder, dass es da ständig Streit gibt, wenn der Kleine Hausaufgaben machen soll. Könnte ich auch nicht bei der Unruhe. Was ist das bloß für eine Mutter…

 

Meistens behalte ich meine Urteile für mich und zucke bloß mit den Achseln, innerlich gewissermaßen. Ich bin ja nicht dafür zuständig, andere Leute zu erziehen, denke ich mir. Aber eigentlich müsste denen ja mal jemand ordentlich die Meinung sagen.

 

So ähnlich stelle ich mir die Situation vor, als man damals eine Frau zu Jesus gebracht hat. Damals ging es um Leben und Tod. Die Männer, die die Frau gebracht haben, wollten sie nicht erziehen – sie wollten ein Exempel statuieren. Sie hatten die Frau beim Ehebruch erwischt. Und jetzt wollten sie eine drakonische Strafe durchsetzen. Die Frau muss gesteinigt werden, wie es das Gesetz vorschreibt, fanden sie. Und gedacht haben sie wahrscheinlich: Dann wird so schnell keine Frau wieder wagen, aus ihrer Ehe auszubrechen.

 

Und zugleich wollten sie ein weiteres Exempel. Sie wollten Jesus öffentlich bloß stellen. Deshalb haben sie die Frau zu ihm gebracht: „Was sollen wir mit ihr machen“, haben sie gefragt. „Unser Gesetz schreibt vor, dass wir sie steinigen. Was sagst du?“ Ja, der Prediger der Liebe Gottes und der Vergebung, was würde er tun? Würde er sagen: Lasst sie gehen – und damit gegen das Gesetz verstoßen? Oder wäre er dafür, das Gesetz durchzusetzen? Und die Frau zu verurteilen?

 

Was macht Jesus? Jesus malt in den Sand. Er weiß: So einfach sind die Dinge nicht. Gut – Böse; Ja – Nein, Schwarz – Weiß. Das Leben hat auch ganz viele Farben dazwischen.

 

Jesus malt in den Sand. Er gönnt sich eine Denkpause – und den anderen auch. Schnelle Antworten greifen meistens zu kurz. Wer weiß, was die Frau bewegt hat? Und wem würde es helfen, sie zu töten? Ihrem Mann? Hatte sie vielleicht Kinder? Jesus malt in den Sand und schafft Raum für solche Gedanken.

 

Mit den aufgebrachten Männern zu reden – das hätte keinen Sinn ergeben. Sie wussten ja schon genau, was sie wollten. Sie wollten nicht diskutieren, sie wollten Recht haben. Und die anderen bloß stellen und fertig machen.

 

Also malt Jesus erst einmal eine Weile in den Sand. Gewinnt Zeit, sich zu besinnen. Gibt den anderen Zeit, nachzudenken. Obwohl ich mir vorstellen kann, wie sie nur gespannt gewartet haben, was jetzt kommt.

 

Da schaut Jesus sie an und sagt: „Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen.“ Dann malt er weiter.

 

Und die wütenden Männer? Die sind verblüfft. Wer weiß, was ihnen in dem Moment durch den Kopf gegangen ist. Woran sich jeder einzelne von ihnen erinnert hat. Und immerhin: Sie sind ehrlich. Sie lassen ihre Steine fallen und gehen. Einer nach dem anderen.

 

Sie gehen ohne Erklärung und ohne Entschuldigung – das kriegen sie nicht fertig. Vielleicht ist das auch zu viel verlangt in so einer Situation. Aber wahrscheinlich gehen sie mit allerlei Gedanken im Kopf heim. Und vielleicht sind sie beim nächsten Mal nicht mehr so schnell und so aufgebracht bei ihrem Urteilen.

 

Nur Jesus – Jesus bleibt bei Frau. Jetzt kann er tun, was eigentlich wichtig ist. Er wendet sich der Frau zu. Redet mit ihr. Denn Jesus geht es um sie und um ihre verfahrene Lebenssituation. Für Jesus geht es um die Menschen, die Hilfe brauchen. Nicht um die, die nur nach dem Recht fragen und Recht haben wollen. Es geht Jesus auch nicht darum, Strafen durchzusetzen, die am Ende ja doch kein Unrecht verhindern.

 

Deshalb sagt Jesus der Frau: „Ich verurteile dich nicht. Aber tu von jetzt an kein Unrecht mehr!“ Es geht nicht darum, festzustellen, wer Recht hat. Es geht darum, dass kein Unrecht geschieht. Jesus schaut nach vorn, nicht zurück.

 

Vielleicht kann man das besser, wenn man erst eine Weile nachdenkt und in den Sand malt.

12.08.2017
Pfarrerin Lucie Panzer