Wandern mit Ziel

Morgenandacht
Wandern mit Ziel
08.10.2015 - 06:35
18.06.2015
Pastorin Annette Gruschwitz

Die beste Zeit zum Wandern ist der Herbst. Das Wetter ist oft noch sonnig. Und noch nicht zu kalt. Ich wandere gerne. Spüre den eigenen Körper und erlebe die Gegend in einer Langsamkeit, die mir sonst abhanden kommt.

 

Der Weg ist wichtig, aber ich brauche beim Wandern auch ein Ziel. Eine Burg zum Beispiel.

 

Einmal unterwegs kann ich das Ziel, die Burg, schon von fern auf einer Anhöhe bestaunen. Auch wenn es noch einige Kilometer sind, male ich mir schon aus, wie die Burg wohl von nahem aussieht: Die dicken Mauern, das mächtige Burgtor. Gibt es innen einen Festsaal? Mit Wandbehängen? Und Ritterrüstungen? Wie es sich wohl auf einer Burg lebt?

Während ich weitergehe schicke ich sie schon voraus: Wie im Märchenfilm malt meine Phantasie ein prächtiges Bild in mir. Mein Verstand dagegen sagt streng, dass ich als Burgfräulein in einer zugigen mittelalterlichen Burg ohne Zentralheizung wenig Spaß gehabt hätte. Ob mir das Essen schmecken würde? Dann vielleicht doch lieber als Mann auf einer Burg leben: Wenn, dann Ritter. Als Leibeigener oder Bauer hätte ich vermutlich die Burg nur aus der Ferne gesehen.

 

Noch ganz in Gedanken merke ich, dass ich schon am Fuß des Berges angekommen bin. Fehlt nur noch der Aufstieg. Es gibt natürlich keinen direkten Weg. Stattdessen schlängelt sich der Weg in Serpentinen den Berg herauf. Immer mit ein bisschen Steigung. So bleibt mir ein kräftezehrender steiler Anstieg erspart und verteilt sich auf viele Meter. Bei jeder Wendung entdecke ich mehr von der Burg:

Ich sehe, wie mächtig sie auf einem Felsen steht. Dass riesige Steinblöcke behauen wurden, um die Mauern uneinnehmbar zu machen. Aber auch Fachwerk und filigrane Steinmetzarbeiten zieren das Haupthaus. Von fern konnte man das alles noch nicht richtig erkennen. Beeindruckend.

 

Und dann bin ich endlich oben auf dem Berg. Ich gehe durch das Burgtor. Die schweren Fallgitter sind noch zu sehen. Dicke Ketten halten sie oben. Gut, dass ich hineindarf. Ich bin willkommen. Hier kann ich mich ausruhen, durchatmen, stärken. In dieser Burgfeste.

 

Natürlich bin ich nicht alleine hier. Noch viele andere schauen sich mit mir hier um. Wir können fragen und bekommen Antworten. Hier wird der Wissensdurst gelöscht. Und Kraft getankt.

 

Aber der Höhepunkt ist für mich dann doch der Aufstieg zum Turm. Die engen Stufen im Turm nach oben sind leicht zu schaffen. Ich will hoch hinaus. Die Übersicht behalten. Vom höchsten Punkt runterschauen.

 

Und dort oben begrüßt mich der Wind. Bei den Schritten an den Rand zur Zinne werde ich wieder ganz klein. Genau wie das, was unten liegt. Winzig sehen die Bäume aus, die vorhin noch die Sicht nahmen und sich vordrängten. Wegweiser, die vorhin auf dem Weg hilfreich waren, sehen unbedeutend von hier oben aus.

 

Ich erkenne: das eine Dorf liegt gar nicht so weit weg von dem anderen Dorf – obwohl sie unten meilenweit auseinander schienen.

So ein Perspektivwechsel tut mir gut. Er rückt manches zurecht. Und mir wird klar – ich weiß auch nicht alles.

 

Hier, am Ziel meiner Wanderung, kann ich verstehen, warum Gott in der Bibel so häufig mit einer Burg verglichen wird. In der Bibel heißt es von Gott: „Du bist meine Burg, meine Zuversicht, mein Gott, auf den ich hoffe.“

 

Ein Gott wie eine Burg. Einer, an dem ich mehr entdecke, je länger ich auf dem Weg bin. Der meinen Blick auf mich und die Welt ändert, wenn ich aus seiner Perspektive schaue.

Der Weg dorthin ist manchmal schweißtreibend. Aber diese Burg ist für mich nicht nur ein prima Wanderziel. In dieser Burg möchte ich gerne zu Hause sein.

18.06.2015
Pastorin Annette Gruschwitz