Weihnachtswehrlosigkeit

Morgenandacht
Weihnachtswehrlosigkeit
24.12.2020 - 06:35
20.12.2020
Evamaria Bohle
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Das Warten hat ein Ende. Der Säugling greift in die Luft und schreit sich in die Gemeinschaft der Atmenden. In das Licht der Welt. Es ist: ein Mädchen. Winzig, aber eine von uns. Zehen, Finger, Gefühle - alles dran. Noch nackt und blutig, und schon Hoffnungsträgerin. Glücksbringerin. Wunderkind. Eine neue Zeitrechnung beginnt. Gott wird wieder einmal Mensch. Das Neugeborene schreit; dem, der Vater geworden ist, kommen die Tränen und am Bett der frisch Entbundenen flüstert ein Engel. Es ist zweifellos eine heilige Nacht.

Erste Fotos gehen in die Welt. Komm, sag es allen weiter! Ein Kind ist uns gegeben. Und der Chat explodiert. Die Großeltern sind aus dem Häuschen. Jemand schreibt: „Zum Niederknien“. Und die frischgebackenen Eltern können sich nicht sattsehen. Ihr Kind, in Windeln gewickelt und in einer Plexiglaswiege liegend. Grade noch unter dem Herzen getragen, versorgt in wärmender Enge, jetzt nackt und bloß, wehrlos und preisgegeben. Vollkommen angewiesen. Auf Gewaltlosigkeit, Liebe, Zartheit, Verlässlichkeit, Nähe. Hat nichts, als seine Stimme, diesen Säuglingsduft und seine Wehrlosigkeit. Wird nur überleben, wenn man es beschützt. Und nährt. Und wickelt und wiegt und liebt und nicht, nie vergisst. Ist das zu schaffen? Was für eine Verantwortung. Der Wunsch zu beten scheint durchaus eine angemessene Reaktion.

Weihnachten ist das Fest der Wehrlosigkeit. Das Warten hat ein Ende. Ein Säugling greift in die Luft und schreit sich in die Gemeinschaft der Atmenden. Es ist ein Junge. Licht der Welt. Winzig, aber einer von uns. Zehen, Finger, Gefühle - alles dran. Noch nackt und blutig, und schon Wunderrat, Hoffnungsträger und Freiheitsversprechen. Grade noch unter dem Herzen versorgt in wärmender Enge, jetzt nackt und bloß in einem Futtertrog, wehrlos und preisgegeben. So wird Gott Mensch, und alles geht auf Anfang. Eine neue Zeit beginnt.

Und der Engel kommt leise zu dir und sagt: Das gilt auch für dich. Sei wehrlos. Schütze die Wehrlosen und hab keine Angst. Easy, easy. Alles wird gut. Das Warten hat ein Ende. Gott glaubt an dich. Gott will deinen Beschützerinstinkt wecken. Zärtlichkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit, Verlässlichkeit – Liebe eben. Das Schönste im Menschen. Liebe ist überallmächtig – wie ein neugeborenes Kind.

Das Warten hat ein Ende. Weihnachten ist das Fest der Wehrlosigkeit. Fürchtet euch nicht, sagt der Engel. Legt eure Panzer ab, nicht die Masken. Öffnet die Visiere. Ja, das ist das Schwerste. Die Furcht loszulassen. Die Nacktheit zu spüren unter dem Outfit, die Nächstenliebe unter der Atemmaske, die Wehrlosigkeit. Die Zerbrechlichkeit auszuhalten, die eigene, die der anderen, und doch nicht innerlich zuzumachen. Sie nicht wegzulachen, wegzugschimpfen.

Das ist das Schwerste: Das neugeborene Kind im Futtertrog zu sehen, wo es nicht hingehört, begafft von fremden Leuten, die nach Schaf riechen, und trotzdem vertrauen, dass auch sie sanfte Herzen und Hände haben und vielleicht etwas wissen, was ich noch nicht weiß. Hashtag Weihnachtswehrlosigkeit. Und der Chat explodiert.

Vertraut! Seid entwaffnend! Wehrlos! Beschützer und Beschützte zugleich. Die Großeltern sind aus dem Häuschen. Jemand schreibt: „Zum Niederknien“. Andere sehen Sterne, haben Träume in den Augen und machen sich mitten in der Nacht auf den Weg, um das Kind zu sehen. Ja, es ist zum Fürchten, aber fürchtet euch nicht. Jemand könnte uns wehtun? Das ist das Risiko. - Seid entwaffnend. Wehrlos. Vertraut: Das Warten hat ein Ende.  

20.12.2020
Evamaria Bohle