Weißes Licht

Morgenandacht
Weißes Licht
02.05.2019 - 06:35
21.03.2019
Autorin des Textes: Melitta Müller-Hansen
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Es ist ein Sonntag nach Ostern. In einem kleinen Dorf in Siebenbürgen. Die 10jährige Anna geht an der Hand ihrer Mutter in die Kirche, wo sich die Festgemeinde zum Gottesdienst versammelt hat. Die Orgel spielt. Und der kleinen Anna an der Hand ihrer Mutter bietet sich ein Farbenspiel dar. Die Männer nahe beim Eingang tragen ihre schweren hellbraunen Lederpelze, blau und rot bestickt. Die jungen Mädchen, die Teenager haben bunte Bänder im Haar und auf dem Rücken, die alten Frauen sind von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Doch als sie an den jüngeren Frauen vorbeigeht, mit ihren weißen aufgebügelten Ärmeln, mit ihren eierschalenweißen feinen Schleiern im Haar und den blütenweißen Schürzen, da verschwimmt alles vor ihrem Auge zu einem einzigen leuchtenden Weiß. Wie ins Licht getaucht ist sie für Momente. Sie weiß nicht, ob sie geht oder steht, sie schaut und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben etwas anderes. Konturen verschwimmen, die einzelnen Menschen treten zurück, das weiße Licht ist dominanter als die schwarze und bunte Kleidung – und es schließt alle ein. Auch Anna. Was sie tief beglückt. Sie weiß es noch genau, auch 70 Jahre später, wie es war, ins weiße Licht getaucht zu sein und sagt: Ich weiß, dass es da sein wird, wenn ich sterbe.

 

Ich bin 18, als meine Gymnasialklasse nach Paris fährt. Klassenfahrt. Unglaubliches Hochgefühl. Ich bin gerade dem Eisernen Vorhang entkommen und nun öffnet sich die Welt mit all ihrer Vielfalt und Farbigkeit. Paris, Sehnsuchtsort. Dass ich da mal hinkomme! Es wird wie erwartet außergewöhnlich und interessant. Museen, Kneipen, die Sprache, die Französinnen! Vor lauter Glück und Überschwang laufe ich unter dem Arc de Triomphe einem Fremden in die Arme und küsse ihn. Aber etwas anderes ist tiefer gegangen: Auf der Hinfahrt sitzen wir im Zug und ich hab nur noch einen Platz im Gang bekommen, so dass ich die Abteile sehe, in denen die anderen sitzen. Ich hatte meine Schulfreunde gerade mal vor einem halben Jahr kennengelernt. Mochte wirklich nicht jeden Einzelnen. Doch auf einmal verschwimmen die Konturen. Der ganze Wagen, in dem wir sitzen, ist von einem gleißenden Licht durchflutet, das mehr ist als nur die Sonnenstrahlen. Und nichts mehr bewegt sich. Es ist wie ein Standfoto. Die Zeit bleibt stehen, als würde sie jemand anhalten. Und in mir höre ich den Satz: „Ich liebe alle diese Menschen.“ Ein anderes Ich spricht hier. Mein Alltags-Ich könnte diesen Satz so nicht sagen.

 

Was passiert hier? Wie sind solche Erfahrungen zu deuten? Warum weißes Licht? Ich habe begonnen zu verstehen, als ich entdeckt habe, dass die Farbe für Mystikerinnen und Mystiker aller Religionen eine beliebte Metapher ist. Das Viele und das Eine, die Vielfalt der Welt und die ursprüngliche Einfalt aller Dinge in Gott zeigen sich im Farbenspiel. Und die Farbe Weiß, das Farblose, ist das, was alle Farben umfasst.

 

In der christlichen Tradition steht sie für Christus. Und ist immer dann in den Kirchenräumen zu finden, wenn ein Christusfest gefeiert wird. An Weihnachten und an Ostern schmücken weiße Paramente die Altäre und Kanzeln und verweisen auf dieses Licht. Nicht zu verwechseln mit moralischer Reinheit, mit weißer Weste. Im farblosen Licht ist die ursprüngliche Einheit sichtbar, die Einheit aller Menschen, aller Farben, der ganzen Vielfalt der Welt. Und auch das Ziel aller Religionen: die Liebe, die alle und alles umfasst.

 

Manchmal schüttet sich dieses weiße, göttliche Licht plötzlich aus über einem Menschen. „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine Kleider wurden weiß wie das Licht“ heißt es einmal von Jesus in den Evangelien und sie nennen es Verklärung.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.03.2019
Autorin des Textes: Melitta Müller-Hansen