Wenn der Speicher voll ist – abschalten

Morgenandacht
Wenn der Speicher voll ist – abschalten
02.07.2015 - 06:35
16.06.2015
Ulrike Greim

Zu viel. Es war ihr zu viel. Alles war ihr zu viel. Also beeilte sie sich, schneller zu sein, als die lähmende Müdigkeit. Sie wollte arbeiten und mehr schaffen, damit sie bald Feierabend machen kann. So stand sie schon halb fünf in der Frühe auf, damit sie spätestens halb sechs am Schreibtisch sitzen kann. Damit sie etwas wegschaffen kann, bevor das erste Mal das Telefon klingelt. Und dann andauernd. Sie wollte der Bugwelle zuvor kommen. Aber es war zu viel. Alles war ihr zu viel. Die Arbeit, die Mails, die Termine, die Aufgaben. Das Essen. Der Magen machte schon lange nicht mehr mit.

 

Auch das Überangebot im Supermarkt war ihr zu viel. Es flimmerte vor ihren Augen. Und die Videos auf Facebook. Die waren nett, ja. Und – klar, sie unterhalten. Aber in Summe waren sie zu viel. Ganz zu schweigen von den Nachrichten. Besonders den fürchterlichen. Hinsehen, dachte sie sich. Hinsehen. Nicht weggucken. Flüchtlingsströme in Jordanien. Wieder ein Boot im Mittelmeer. Die Bilder, die die Zeitungen nicht zeigen: Christen ans Kreuz genagelt im Irak. Es war ihr zu viel. Sie wollte nicht mehr. Es reichte wirklich.

 

Urlaub, dachte sie. Ich brauche Urlaub. Abschalten-Können. Keine Nachrichten hören, keine Mails lesen, keine Anrufe bekommen. Handy gar nicht dabei haben. Das wäre ein Traum. Weglassen. Platz schaffen. Bilder aus dem Hirn räumen, die schon anfangen zu gären. Weil sie sich nicht entfalten dürfen. Ihre grausame Wucht. Und ihre Leidenschaft. All die Bilder. Auch die guten. Wo sind die eigentlich? Verschütt gegangen. Das Bild des jungen Vaters auf dem Spielplatz, der ganz versonnen mit dem Baby schmust. Das lacht. Das Bild des alten Paares im Park, des Mannes am Gehstock, der kurz innehält und seiner Frau behutsam eine Strähne aus dem Gesicht streicht. Überhaupt: der Park. Die Bäume. Die Kirschen an der Allee. Diese Bilder scheinen nicht zu wirken. Sie sind verschüttet unter all dem Datenmüll ihrer Seele. Sie ist wie im Meer der Zahlen und Buchstaben. Alles so wahnsinnig gedämpft. Sie hört es nur rumoren. Basstöne. Wie lange kann sie wohl die Luft anhalten?

 

Fluten

Deine Fluten.

Sie rauschen daher.

Wellen gehen über mich.

Eine Tiefe ruft die andere.

Gott!

 

Kaffee. Hat bisher immer geholfen. Kaffee und Schokolade. Noch’n Pott. Noch ’ne Tafel. Nerven, beruhigt euch. Ferien wären nicht schlecht. Beine hochlegen und aufs Meer schauen, nichts denken müssen, schön essen, angeregt plaudern, schön mit dem Liebsten schlafen. Überhaupt: schlafen. Oh, es geht auf sieben zu. Sie muss die Präsentation fertig machen. Sie Ralf schicken, er muss das o.k. geben, dann alles auf Stick ziehen und das Format noch anpassen, welches war das gleich? Eilmeldung. Erdrutsch in soundso. 102 Tote. Rettungstrupps losgeschickt. Sie will es nicht hören, kann es nicht. Kann ich mich nicht heute Abend mit Freunden verabreden? Und denkt: Keine Zeit. Welche Freunde eigentlich? Ich bin doch froh, wenn ich mal einen Abend Ruhe habe.

 

Einsam.

Bin verloren.

Mitten im Strudel.

Hast du mich vergessen?

Warum hast du mich vergessen?

Gott!

 

Pling, die erste neue Nachricht. Immer diese Frühaufsteher. Eine Terminabsprache. Ich will keine Termine absprechen. Ich will Urlaub, sagt sie halblaut. Nichts wie weg hier. Im Lotto gewinnen, Job an den Nagel hängen und die Biege machen.

 

Durst.

Mich dürstet.

Ich will Wasser.

Ich brauch’ lebendiges Wasser.

Meine Seele dürstet nach dir,

Gott.

 

So, der erste Ruck ist geschafft. Eben die Präsentation rübergeschickt. Ha! Sie ist erleichtert. Hat was geschafft. Und surft im Netz nach Urlaub am Meer. Leer werden will ich, entrümpeln. Ausmisten, seufzt sie. Schlechte Nachrichten und die bunte Bilder. Löschen. Platz schaffen auf meiner Festplatte. Noch zwei Wochen bis Urlaub. Das pack ich.

16.06.2015
Ulrike Greim