Lebensmöglichkeiten first – die Stärke der Kleinbauern

Spurensuche
Lebensmöglichkeiten first – die Stärke der Kleinbauern
02.07.2022 - 10:00
30.06.2022
Petra Schulze
 

 

Die Spendendose

An meiner Wand im Kinderzimmer hängt ein Adventskalender. In 24 kleinen Päckchen erwarten mich kleine Leckereien oder ein kleines Spielzeug. Die Schokolade hat es mir besonders angetan. Jeden Abend schaue ich mit meiner Omi Fernsehen. 19 Uhr kommen die Nachrichten. Da sehe ich Kinder: große Augen, nur noch Haut und Knochen und dicke Bäuche. „Hungerbäuche“ sagt meine Omi dazu. Kinder, die wohl sterben werden. Wenn wir nicht spenden. Omi hat nicht viel. Sie spendet trotzdem. Und ich habe oft ein schlechtes Gewissen, dass ich so viel habe und andere Kinder so wenig.

Später auf dem Gymnasium und im Konfirmandenunterricht erfahre ich Hintergründe und Ursachen: Wie es zum Hunger in der Welt kommt. Da gibt es viele: Unwetterkatastrophen, schlechte politische Führung, Armut, Kriege. Und wir sammeln Spenden. Mit der weißen Spendendose mit orangefarbenem Logo drauf und manchmal auch Bildern von den hungernden Kindern. Brot für die Welt. Die Dose steht auch in den meisten evangelischen Kirchen, die ich besuche. Im Religionsunterricht höre ich von Frère Roger Schutz, dem Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé.

 

Gerechtigkeit first

Roger Schutz hat es vor mehr als 40 Jahren auf den Punkt gebracht:

„Du weißt sehr wohl, dass die gerechte Verteilung der Güter unter allen Menschen eine Bedingung für den Weltfrieden ist. … Mach dir keine Sorgen, wenn du kaum etwas zu teilen hast: einen geringen Glauben, nur wenig Besitz. Teilst du dieses Wenige, schenkt Gott dir eine Überfülle des Herzens, die nie versiegt.“ (1)

Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Und das zeigt sich in allen Kriegen und Bürgerkriegen dieser Erde. Gerechtigkeit first. Oder noch besser: Lebensmöglichkeiten first. Gott hat den Menschen mit der Schöpfung immer wieder klar gemacht: Ihr bewohnt diese Erde. Bewahrt sie. Schafft Lebensmöglichkeiten. Teilt. Seid Geschwister. Was wir in großem Stil beherrschen sind Zerstörung und Krieg. Die Versuchung, nur mein eigenes Wohl im Blick zu haben, ist groß. Die anderen immer mit im Blick zu behalten, ist genauso in mir angelegt. Und ich brauche meine Glaubensgeschwister und andere engagierte Leute, die das immer wieder in mir wecken. Deshalb brauche ich den Gottesdienst am Sonntag, in dem mir immer wieder von ihnen berichtet wird. Evangelische Kirchengemeinden und Kirchen pflegen Freundschaften und Partnerschaften mit Menschen anderer Länder. Zu ihren großen Versammlungen, den Synoden, laden sie Gäste aus aller Welt ein. Die erzählen, wie es in ihrem Land aussieht.

 

Klimagerechtigkeit sichert Brot für alle

Heute bin ich fast 50 Jahre älter als damals, als mein Adventskalender an der Wand hing und ich die ersten Bilder von hungernden Kindern gesehen habe. Und höre in der Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen den Bericht der Präsidentin von „Brot für die Welt“ und Diakonie Katastrophenhilfe. Nüchtern präsentiert Dagmar Pruin die Zahlen: Im Juni 2022 haben wir rund 800 Millionen Hungernde in der Welt. Jeder 10. Mensch in der Welt leidet unter chronischem Hunger. (2) Das kann akuter Hunger sein, durch eine Hungersnot oder auch chronischer Hunger, weil man dauerhaft zu wenig zu essen hat und sich nur wenig gesunde Lebensmittel leisten kann. Die meisten Menschen hungern in Südasien und in Afrika südlich der Sahara, den so genannten Sub-Sahara-Gebieten. Durch den Klimawandel hat sich die Situation verschärft.

So sagt Dagmar Pruin: „Dürren und andere Wetterextreme führen dazu, dass ein Überleben großer Teile der Bevölkerung auf Dauer kaum noch möglich ist.“ Neueste Prognosen sagen: Bis zum Jahr 2030 könnten in Afrika bis zu 700 Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen werden. Etwa die Hälfte der Bevölkerung wird dann in ihren Heimatländern keine Lebensperspektive mehr haben und muss Rettung in der Flucht suchen. Deshalb setze sich „Brot für die Welt“ auch stark für Klimagerechtigkeit ein und unterstütze besonders im globalen Süden vorrangig Kleinbäuerinnen und -bauern. „Denn kleinbäuerliche Betriebe sorgen insgesamt für 80 % der Lebensmittelproduktion.“ (3) Das unterstützen auch die Mitgliedskirchen der VEM (Vereinte Evangelische Mission). Die Anglikanische Kirche in Ruanda beispielsweise unterstützt lokale Kleinbäuerinnen und -bauern dabei, nachhaltige Anbaumethoden umzusetzen und die vorhandenen natürlichen Ressourcen besser auszuschöpfen. 400 Bäuerinnen und Bauern aus den verschiedenen Regionen des Landes nähmen an dem aktuellen Fortbildungsprogramm teil. Sie lernen, wie man seine Anbaumethoden an den Klimawandel anpassen kann oder eigenen organischen Dünger herstellt. (4)
Bei der „Konferenz für Ernährungssicherheit“ am 24. Juni 2022 im Auswärtigen Amt in Berlin, erinnerte Dagmar Pruin an eine weitere wichtige Aufgabe: „Die G7 muss dafür sorgen, dass mehr Nahrungsmittel auf den Weltmarkt kommen. Nur so sinken die Preise. Lebensmittel dürfen nicht mehr zur Erzeugung von Treibstoffen genutzt und die Tierbestände müssen deutlich reduziert werden. Derzeit landet zu viel Brot in Trog und Tank. So könnten weltweit Millionen von Hektar für die menschliche Ernährung frei werden. Wir ernten, was wir säen. Zurzeit säen wir Agrartreibstoffe und Futtermittel und ernten Hunger.“ (5)

 

Keine Einbahnstraße
Ich frage mich oft: Was wäre, es gäbe all dies Engagement der Hilfswerke und kirchlichen Initiativen nicht? Und stelle diese Frage auch gerne einem kritischen Gegenüber. Und zudem gibt’s noch eine andere Seite: Nicht „wir“ hier in Deutschland helfen „den anderen“, sondern ebenso helfen sie uns in der einen Welt zu leben. Partnerschaft ist keine Einbahnstraße. Bei mir zu Hause hängt das Bild einer Prinzessin: rotes Kleid, braune Haare, blaue Augen und ein riesiger roter Mund. Gemalt hat es vor vierzig Jahren ein kleines Mädchen aus Tansania. Ihr Vater war Austauschpfarrer in unserer Kirchengemeinde in Dortmund. Sie meinte: „Das bist Du!“ Ich, die Kindergottesdiensthelferin, gesehen und gemalt mit afrikanischen Augen. In kräftigen Farben und sehr ausdrucksstark. Wir lernen voneinander, tauschen uns aus – und helfen einander. Ich habe kein gemaltes Bild von ihr, aber ein inneres. Da ist sie die Prinzessin.

 

 

  (1) Frère Roger Schutz, die Quellen von Taizé, zitiert nach:  https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/003195.html

(2) https://www.welthungerhilfe.de/hunger/

(3) https://www.evangelisch-in-westfalen.de/service/medien/aktuelles/detailansicht/news/klimawandel-als-hungertreiber/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=b6ab370b1e422e853e9f73d5ba240b0f

(4) https://www.evangelisch-wuppertal.de/aktuelle-meldungen-leser-1365/bericht-vem-4.html

 

(5) https://www.brot-fuer-die-welt.de/pressemeldung/2022-brot-fuer-die-welt-zur-konferenz-fuer-ernaehrungssicherheit-im-auswaertigen-amt/

 

30.06.2022
Petra Schulze