Nicht nur „Stroh oder Gold“

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Gemeinfrei via unsplash / Samantha Sophia

Nicht nur „Stroh oder Gold“
24.09.2022 - 10:00
24.09.2022
Ralph Frieling

Es war einmal ein Müller, der hatte seine Tochter so sehr lieb, dass er sie nur dem König zur Frau geben wollte. Aber natürlich ging das nicht. Denn ein König nimmt keine Müllerstochter zur Frau. Also ging der Müller zum König und erklärte, seine Tochter könne aus Stroh Gold spinnen. Das freilich war etwas für das Herz des Königs. Also ließ er die Müllerstochter kommen und sperrte sie in eine Kammer mit Stroh. Er befahl ihr, bis zum anderen Morgen daraus Gold zu spinnen - oder sie müsse sterben.

So beginnt das Märchen vom Rumpelstilzchen.

Nichts oder alles

Ein trauriger, beklemmender Anfang ist das. Aber auch eine stechende Beschreibung von Kindern, die vom geballten Ehrgeiz ihrer Eltern überfordert werden. Die ihr eigenes Leben nicht führen können, sondern ihre Kindheit und Jugend dem Schwindel ihrer Väter und Mütter opfern müssen.   Wie die Müllerstochter sind solche Kinder allein mit der ständigen Angst, wieder den Ansprüchen nicht gerecht zu werden und erneut zu versagen. Immer geht es um alles oder nichts, entweder Nichtsnutz oder Königin, entweder Galgenvogel oder Glückspilz. Dazwischen kann man nur pendeln.

Wie aber ist es möglich, solches Verhalten und solche Erwartungen aufzugeben? Wie ist es für Eltern möglich, damit aufzuhören, Stroh in Gold zu verdrehen und immer mehr zu verlangen? Wie können Kinder neben ihren Eltern und neben deren Ansprüchen an sie genug Raum gewinnen, um selber frei atmen, denken und handeln zu können?

„Wurzeln und Flügel“ – aber wie?

Zwei Dinge von bleibendem Wert kann man Kindern mitgeben: Wurzeln und Flügel.
Eine Sentenz, die wahlweise Goethe zugeschrieben wird oder aus Neuseeland stammen soll. Egal, von wem das Zitat ist: Es klingt nicht nur gut. Es leuchtet ein - wahrscheinlich sogar auf allen Erdteilen. Aber wie steht es um die Umsetzung, wie sieht „Wurzeln und Flügel geben“ im Leben aus? Ich habe mich das als Vater oft gefragt. Und es wird mich weiter beschäftigen.

Das mit den Flügeln ist oft das schwierigere. Es bedeutet, den Söhnen und Töchtern ihren eigenen Raum zur Entfaltung zu geben und sie darin zu respektieren und gelten zu lassen. Viele Eltern haben die besten Vorsätze. Sie wollen ihren Kindern alles bieten, wie Prinzessinnen und Prinzen sollen sie heranwachsen, ihre Fähigkeiten sollen sich von selbst entfalten. Diesen guten Vorsatz gibt es schon, solange es die moderne Pädagogik gibt, seit rund 200 Jahren.

Auch Goethe glaubte übrigens an ihn. Und in einer Zeit, als Kindern Wissen und gutes Benehmen mit Lust eingetrichtert und nicht selten eingeprügelt wurden, war Goethes Glaube an die im Kind angelegten Fähigkeiten revolutionär. Aber dieser Glaube und der gute Vorsatz allein haben offenkundig nicht ausgereicht. Denn in die Fähigkeiten seines eigenen Sohnes setzte der Hofrat leider wenig Vertrauen. Als sein Sohn August nach einem Unfall in Italien starb, wurde er auf dem Fremdenfriedhof in Rom begraben. „Goethe der Sohn, seinem Vater vorangehend, starb vierzigjährig“ – diesen Satz ließ der greise Vater auf den Grabstein meißeln, ohne den Namen seines Sohnes auch nur zu nennen. Im Gegenteil: Der Senior setzte sich selbst in Szene, die Grabinschrift sollte seinen eigenen Namen groß machen. Der Vater schrieb jeden Tag Weltliteratur, doch um die Gefühle und die Fähigkeiten seines Sohnes hat er kaum gewusst.

Nicht mehr, aber auch nicht weniger

Als Christ glaube ich daran, dass ich mir die Liebe nicht durch Leistungen verdienen muss. Und meine Kinder müssen das auch nicht. Ich lese in der Bibel: „Gott hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft spürst du sogar am ehesten in deiner Schwäche.“ (1. Korinther 12,9)
Ob als Müllerstochter oder als Dichtersohn: Es geht darum, aus dem Schatten einschüchternder Ansprüche herauszukommen. Darum, aufrecht gehen zu lernen und zu sagen: Das bin ich - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und es genügt.

 

Viele Eltern sind so stolz auf ihre Kinder, dass sie ihre eigenen Lebenswünsche und Pläne in den Nachwuchs hineinlegen. Auf derartige Projektionen zu verzichten, ist schwer. Aber es hilft den Kindern, ihren eigenen Weg zu gehen, meint Pfarrer Ralph Frieling von der Evangelischen Kirche

24.09.2022
Ralph Frieling