Philosophie an einem sonnigen Herbsttag

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Gemeinfrei via unsplash / Takahiro Sakamoto

Philosophie an einem sonnigen Herbsttag
19.11.2022 - 10:00
19.11.2022
Gerhard Richter

Es gibt Sätze, die verändern im Laufe eines Lebens ihre Bedeutung. Man merkt das zum Beispiel, wenn man die Gelegenheit hat, mit einem Freund darüber nachzudenken.

Druck erzeugt Gegendruck

„‘Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‘ Ich habe diesen Satz gehasst!“ meint Heiner.
„Meine Mutter wollte mich damit oft motivieren, meine Hausaufgaben zu erledigen - und zwar gleich und nicht auf den letzten Drücker. Mich hat das genervt. Heute weiß ich, sie wollte mir damit den Stress nehmen.“

Später aber sei dieser Satz sehr oft von Menschen gekommen, die ihm damit Stress machen wollten, erzählt er. Sie hätten damit Druck aufgebaut, etwas noch schneller zu erledigen, als er es geplant hatte. Seine Antwort darauf war meist ein trotziges: „Nun erst recht nicht.“ - das Gegenteil also vom gewünschten Effekt.
Mit dieser Reaktion erwerbe man sich schnell den Ruf eines eigensinnigen Sturkopfes. Wenn er angetrieben wurde, funktionierte er unter Umständen gar nicht mehr. In bestimmten Situationen empfänden das die anderen als Mangel an Loyalität. Wenn Vorgesetzte ihre Aufgaben nicht umgehend erfüllt sehen, sei das sicherlich kein Vorteil. Ganz extrem hätte er das während seines Grundwehrdienstes erlebt.

Zugreifen

Ich stehe neben ihm und höre mir seine philosophischen Reflexionen an.
Die Zeit, von der er spricht, liegt schon viele Jahre zurück. Einen großen Teil davon haben wir gemeinsam erlebt. Aus dem störrischen Jugendlichen ist in meinen Augen ein sensibler Vater geworden und ein Handwerksmeister. Natürlich denkt er über dieses Thema jetzt anders. Heute erwartet er selbst von anderen, dass Sie seine Aufträge erfüllen. Der Erfolg seiner Werkstatt hängt davon ab.

„Der Satz könnte auch eine Art Weckruf sein, die Chancen, die sich bieten, nicht liegen zu lassen, sondern sie zu nutzen“, erwidere ich ihm.
Dabei denke ich daran, dass der Sand meiner Lebensuhr zum zu einem großen Teil schon in der unteren Hälfte des Uhrglases angekommen ist. Zurückschaufeln kann ich ihn nicht. Er rieselt beständig weiter. Das Häufchen Zeit im oberen Teil der Sanduhr wird immer kleiner.
Und manche Erfahrungen der letzten Monate irritieren mich. Allein im vergangenen halben Jahr war ich Gast auf drei Beerdigungen. Das ist wirklich eine Art Weckruf.
Banalerweise wird alles, was limitiert ist, wertvoller. Der Blick auf die verrinnende Lebenszeit gibt den schönen Erlebnissen darin mehr Wert. Die interessanten Begegnungen und die Dinge, die ich als Erfolg empfinde, werden kostbarer. Selbst einfache Beobachtungen schaffen es, meine Begeisterung zu wecken: Die Farben des Laubes im Herbst, der klare Mond in der Nacht, die feuerroten Sonnenuntergänge an Tagen im November.
Mittlerweile suche ich nach solchen Erlebnissen. Eine wohltuende Musik oder die Kunst eines genialen Menschen, wenn sich ein solcher Schatz bietet, greife ich gerne zu und genieße - und verschiebe das möglichst nicht auf morgen.

Leben vor dem Tod

Mit diesen Gedanken stehen wir auf dem Friedhof. Wir erinnern uns an Heiners Mutter. Vor etwa einem halben Jahr war sie gestorben. Heute haben wir ihr ein paar Blumen gebracht und das Grab etwas geordnet. Auf dem Grabstein glänzt die Schrift mit ihren Lebensdaten in frischen, goldenen Lettern über dem leicht verblassten Namen seines Vaters.
Das Sonnenlicht zeichnet Heiners Gestalt als Spiegelbild über den dunklen Granitstein. Sein Bild überlagert die Namen der verstorbenen Eltern.
„Oh,“ kommentiert er diesen Effekt: „ich bin ja auch schon mit drauf.“

‚Sicher,‘ denke ich, ‚es ist, als ob mein Leben lang mein Name schon auf einem Grabstein steht.‘
Zumindest wissen wir, dass wir jederzeit sterben könnten. Aber so lange wir noch nicht wirklich in der Grube liegen, haben wir die Wahl: Nutze deine Chancen! Ergreife die Schätze!
Denn: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

19.11.2022
Gerhard Richter