Abseits des Dorfes

Wort zum Tage
Abseits des Dorfes
11.10.2018 - 06:20
07.09.2018
Ulrike Greim
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Was ist Sehen?

Das Aufnehmen von Lichtreizen, das Verarbeiten dieser Reize im eigenen Gehirn. Bekannte Elemente interpretieren, indem man sie mit der Erinnerung abgleicht. So lesen wir es heute am Welttag des Sehens. Soweit so gut.

Aber: Wie lernt man sehen? Eine Geschichte.

 

Jesus kommt in ein Dorf. Die Leute bringen einen Blinden zu ihm und bitten ihn: Rühr ihn an. Sie glauben: Das macht ihn heil.

Sie sorgen gut für ihn. Sie denken voraus. Sie haben echte Hoffnung. Sie erwarten, dass sich etwas Großes ändern kann. Er erwartet es nicht. Er kennt es nur so, dass die anderen für ihn denken. Dass sie wissen, was gut ist, dass sie für ihn entscheiden, dass sie für ihn hoffen. Dass sie ihn führen. Sie wissen Bescheid, sie können ja sehen. Wissen, was gut ist für das Dorf, für das Land. Er glaubt es ihnen. So und nur so hatte er es gelernt.

 

Jesus entzieht sich dem frommen Wunsch.

Er nimmt den Blinden bei der Hand und geht mit ihm aus dem Blickfeld der fürsorglichen Mitbürger. Er geht aus dem Dorf heraus. Aus der schnatterigen Community. Aus den Chats, aus den Threads. Wandert abseits der Kommentare.

Bis das Getuschel leiser wird. Bis die vielen Blicke, die sie im Rücken haben, nicht mehr zu spüren sind. Bis das Geräusch, dass die Fürsorge macht, abebbt. Und es bedrückend still wird.

Wie lange dauert es, bis einen das alles loslässt?

Minuten? Stunden? Monate?

Bis man sich unabhängig machen kann? Darum geht es vor allem: um das Ablösen von der Meinung der anderen. Gesellschafts-Detoxen. Freiwerden für eine eigene Sicht.

 

Und Jesus? Spricht er? Er spricht nicht.

Keine neue Lehre. Kein neues Geschnatter. Kein „Du musst das so und so sehen.“ Er berührt ihn. Legt ihm die Hände auf das Gesicht. Da tut sich was.

Da traut der Mann das erste Mal seinen Augen.

Jesus fragt: Was siehst Du? Und der sagt: Ich sehe Menschen wie Bäume, undeutlich. Kann mir keinen Reim darauf machen.

Sehen braucht Zeit.

Das Licht ins Auge lassen und ins Hirn und ins Herz. Nicht nur Schwarzweiß sehen, sondern auch Grauwerte wahrnehmen. Die Bilder selbst verarbeiten. Der eigenen Erinnerung trauen, dem eigenen Urteil.

 

Da legt Jesus noch einmal seine Finger auf die Augen des Mannes.

Und nun kann er vollends deutlich sehen: die Bäume, das Dorf, die braune Erde, den knackblauen Himmel, sich selbst in all seinen Farben. Und den Rabbi, der ihm gegenübersteht.

Halte dich noch eine Weile fern vom Dorf, sagt Jesus ihm noch, fern von den Vielen, dass Du nicht wieder rückfällig wirst. Und sieht ihn gehen. Ohne Hilfe. Wackelig, aber froh.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.09.2018
Ulrike Greim