Auf dem Weg zum Lift

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Arisa Chattasa

Auf dem Weg zum Lift
mit Pfarrer Michael Becker
14.06.2022 - 06:20
14.01.2022
Michael Becker
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Der Tag fängt nicht gut an. Am Morgen fällt ihr das halbe Brötchen auf den Schoß. Natürlich mit der Marmeladenseite nach unten. Frieda ärgert sich - über sich. Sie weiß, dass sie manchmal verwirrt ist, die Dinge ihr oft nicht gehorchen. Frieda ist 81 Jahre alt und fühlt sich einsam, obwohl sie im Heim lebt. Mit einigen will sie nicht sprechen. Andere wollen nicht sprechen oder können nicht mehr. Welcher Tag ist heute? Das weiß Frieda nicht. Die Uhrzeit auch nicht. Sie kommt zu früh zum Treffen im Gemeinschaftsraum. Fast zwei Stunden vor der Zeit ist sie alleine im Kreis. Alle Stühle leer. Nur Frieda sitzt da. Ich sage zu ihr: „Sie sind ja zu früh.“ „Wo soll ich denn hin?“, fragt sie. Ich sage: „Vielleicht in ihr schönes Zimmer mit den alten Möbeln von Zuhause“. Frieda zögert. Dann erhebt sie sich aus dem Stuhl, stützt sich auf den Rollator. „Ich bringe Sie zum Lift“, sage ich und gehe voraus. An manchen Tagen weiß Frieda nicht, wo der Lift ist. Auf dem Flur fragt sie mich: „Weiß der Lift denn, wo ich hin will?“

          Was für eine wundersame Frage. Weiß der Lift denn, wo ich hin will? Friedas Welt hat sich verschoben. Wissen die Dinge, was ich will? Nein, wissen sie nicht. Eigentlich sind wir ja „Herr der Dinge“. Was aber, wenn das Wissen verloren geht? Und man nicht mehr weiß, wo man hin will oder hin soll? Weiß dann ein Lift Bescheid? Natürlich nicht. Nur ich kann jetzt helfen. Als wir im Lift ankommen, drücke ich für sie auf Stockwerk 4. Dort ist ihr Zimmer. Wenn sie aussteigt, sieht sie gleich die Blumen an ihrer Tür. Ganz selbstverständlich wird sie ihr Zimmer betreten. Ich muss mich nicht sorgen, sie auf ihrem Stockwerk alleine zu lassen.

          Mehr sorge ich mich um die, die niemanden haben, der ihnen auf ihrem

Weg hilft. Zu leben, der Dinge Herr zu bleiben ist schwer, wenn einem die Sinne schwinden. Wenn Vertrautes vergessen wird, Erinnerungen zerbröseln. Jeder braucht dann Hilfe, möglichst unaufgeregte. Hilfe ohne Vorwurf. Beistand, wie

das schöne Wort sagt: Dass einer bei mir steht, wenn es dunkel wird in mir.

Jemand mich nicht vergisst, wenn ich vergesse. Wenn meine Sinne durcheinander gehen, mir die Welt nicht mehr gehorcht. Damit ich fühle: Mich tröstet jemand, wie einen seine Mutter tröstet.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

14.01.2022
Michael Becker