Corona

Wort zum Tage
Corona
05.12.2020 - 06:20
03.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig
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Heute ist der sechste Tag. Am Sonntag hat er Fieber bekommen, Husten, Gliederschmerzen. Es fühlte sich an wie eine Grippe. Aber da ahnte er bereits, was der Test dann am Montag bestätigt hat: Corona hat ihn erwischt; trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. Als Arzt weiß er, wie heimtückisch dieses Virus ist. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er sich nicht schon früher angesteckt hat.

Nun hat er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um seine Frau und seine Tochter zu schützen. Zum Glück ist das Haus groß genug, sodass sie sich aus dem Weg gehen können. Was für eine merkwürdige Situation für alle drei: Das Essen stellen sie ihm vor die Tür, damit er nicht unnötig das Zimmer verlassen muss. Die Abende verbringen sie nicht wie sonst zusammen auf der Couch, sondern getrennt: Er ist im Arbeitszimmer, seine Tochter in ihrem Reich im Dachgeschoss und seine Frau sitzt allein im großen Wohnzimmer. Wenigstens können sie sich hören und sich auch auf Abstand unterhalten. Aber nach Unterhaltung ist ihm nicht zumute; er fühlt sich kraftlos. Eigentlich hat er zu nichts Lust.

Aus dem Fenster seines Arbeitszimmers blickt er in den Garten. Groß ist der nicht, aber liebevoll angelegt: Wer sich in der Sitzecke erholen möchte, läuft durch einen Rosenbogen. Auch jetzt noch blühen dort zwei Rosen, die eine rot und die andere gelb. Was für ein Anblick in dem herbstlich-kahlen Garten! Dieses Bild muss er festhalten. Er holt seine Kamera und wählt eine besondere Einstellung, die nur die gewünschte Farbe hervorhebt und alle anderen umwandelt in unterschiedliche Grautöne.  Eine Weile muss er experimentieren, aber dann gelingen ihm zwei starke Bilder. Eines zeigt die gelbe Rose. Aus einem grau-schwarzen Meer aus Blättern und Stielen streckt sie sich dem dunklen Himmel entgegen. Sie leuchtet wie eine Sonne, die das Dunkel durchbricht. Auf dem zweiten Foto ragt die rote Rose diagonal ins Bild hinein, aufgeblüht in vollendeter Schönheit. Die beiden Knospen direkt daneben sind noch fast geschlossen, aber hinter dem Grau der Knospenblätter schimmert ein lebendiges Rot. Es ist, als ob auch diese schlummernde Kraft das Dunkle und Einengende zur Seite schieben will.

Während er die Bilder bearbeitet, nimmt er die Leuchtkraft seiner Rosen immer intensiver wahr.  Nun ist alles ausgeblendet, was von ihrer Schönheit ablenken könnte. Er staunt und ihm ist zumute, als würde er das Leben selbst in den beiden Bildern entdecken, in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, Freude und Kraft. Ja, diese Rosenbilder wird er der Familie schicken, als Gruß des Lebens aus dem Krankenzimmer.

03.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig