Das Taufkleid

Wort zum Tage
Das Taufkleid
20.07.2016 - 06:23
20.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Da lag es – verborgen hinter einem Haufen Papier in einem Sekretär: das Taufkleid. Ein Familienstück, wie man es früher noch selbstverständlich weitergab von Generation zu Generation am Tag der Taufe eines Kindes, egal ob Junge oder Mädchen. Der Stoff des Kleides ist schon ein wenig vergilbt. Kein Wunder: Die letzte Taufe in diesem Kleid ist lange her. 1906 – vor mehr als hundert Jahren war es ein Junge, der es trug: Dietrich Bonhoeffer, damals bei seiner Geburt zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine das Jüngste von sieben Kindern der Eheleute Karl und Paula Bonhoeffer. Das Kleid fand sich im ehemaligen Haus der Familie in der Marienburger Allee in der Berliner Eichkampsiedlung. Hier in diesem Haus schrieb Dietrich Bonhoeffer seine „Ethik“. Hier wurde er am 5. April 1943 im Beisein der Eltern verhaftet. Heute ist das Haus eine Erinnerungs- und Begegnungsstätte. Gäste aus aller Welt kommen hier vorbei. Besuchergruppen tagen in den ehemaligen Wohn- und Essräumen der Familie oder werfen einen Blick in das Studierzimmer des berühmten Theologen und Widerstandskämpfers. Blättern in seinen Schriften, werfen einen Blick auf die kleine Fotoausstellung. Ein berührender Moment war das, als sich beim Ordnen der Schränke nun dieses Taufkleid fand. Ein persönliches Familienstück, übrig geblieben in dem Haus, das die Familie Dietrich Bonhoeffers schon vor langer Zeit verlassen hat. Er hinterließ unzählige Schriften, Bücher, Briefwechsel und Predigten. Als Pfarrer schloss er sich dem militärischen Widerstand an. Er wurde verhaftet und ganz kurz vor Kriegsende nach Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 im KZ Flossenbürg ermordet.

„Wer bin ich?“ das hat er sich oft gefragt. Vor allem in der Haft. Und ein berührendes Gedicht ist aus diesem intensiven Fragen entstanden: „Wer bin ich?... Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig, … hungernd nach Farben, … dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe…“[1]

Das Taufkleid weist zurück an den Anfang: auf ein neugeborenes Kind, über dem bereits die große Zusage Gottes steht: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein… und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen. Du bist mein. Du gehörst zu mir. Und ich bin mit dir, wohin du auch gehst.

Heute am 20. Juli denke ich an dieses Kleid und an einen besonderen Menschen, der es getragen hat.

 

[1] Wolfgang Huber (Hrsg.) Dietrich Bonhoeffer Auswahl Bd. 6. Gütersloh 2006, 176.

20.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen