Der Fund des Zifferblattes

Wort zum Tage
Der Fund des Zifferblattes
11.04.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner
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Wir hatten eine gute Aussicht erwartet, als wir den Turm der Zionskirche hinaufstiegen, im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Prächtig war der Rundumblick. Nicht erwartet hatte unsere Besuchergruppe, was wir in einer Nische der Turmstube entdeckten: Ein altes Zifferblatt der Turmuhr. Das Metall war verwittert. Rost hatte sich eingefressen.

 

„Wir mussten es ausrangieren“, sagte der Turmführer. Es mussten neue Zifferblätter angefertigt werden. Bislang sei es unklar, wozu die alten nützlich sein könnten. Ich merkte, dass eine ältere Dame aus unserer Gruppe wie gebannt auf das Zifferblatt schaute. War ihr nicht gut? Sie bat uns, vor das Zifferblatt zu treten. „Ich glaube nicht an Zufälle“, sagte sie. Und fügte hinzu: „Vielleicht sollten wir heute auf diesem Kirchturm das finden, was wir schon so lange suchen: Ein Zifferblatt!“

 

Sie berichtete der Gruppe von der noch unausgereiften Idee, ein Turm-Uhrwerk zu restaurieren. Nur ein paar hundert Meter vom Zionskirchplatz entfernt befand sich einst an der Bernauer Straße die Versöhnungskirche. Dieses Gotteshaus der West-Berliner Versöhnungsgemeinde stand aber in den Grenzanlagen der Berliner Mauer. Die Kirche wurde 1985 gesprengt. Die Turmuhr konnte noch ausgebaut werden. Seitdem lagerte sie in verschiedenen Berliner Kellern. Die Zifferblätter sind verschollen.

 

Inzwischen ist die Wiederbelebung des alten Uhrwerkes zu einem Herzens-Anliegen für Ortrud geworden. Wir fanden eine Turmuhr-Firma, welche beide Bestandteile restauriert und miteinander vereint, als echte „Zeit-Zeugen“, im wahrsten Wortsinn: Zum einen das gerettete Uhrwerk der Versöhnungskirche. Zum anderen das von uns entdeckte historische Zifferblatt, als ein Symbol für die friedenspolitisch engagierte DDR-Christenheit. Die Zionskirche war als Treffpunkt oppositioneller Gruppen einer der Ausgangspunkte für die Friedliche Revolution.

 

Auf die Fundraising-Idee zum Spendensammeln kam Ortrud, als sie sich das Zifferblatt noch einmal genau ansah. Zwölf Stunden zeigt es an, Zwölf Mal 60, das sind 720 Minuten. Wer die Wiederbelebung der Turmuhr unterstützen möchte, kann eine Minute erwerben. Wir versenden dafür einen Dank und eine Urkunde mit der gewidmeten Minute. Nun bekommen wir seit Beginn der Aktion nicht nur Mittel für die Restaurierung. Darüber hinaus schicken uns Menschen aus ganz Deutschland auch ihre Geschichten, die sie mit ihrer Minute verbinden: berührende Berichte einzelner Augenblicke, von Glück und Bewahrung. „Ich glaube nicht an Zufälle“, hatte Ortrud gesagt. So beschreibt es auch der alttestamentliche Prediger Salomo: „Jegliches hat seine Zeit. Und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner