Der Gethsemanemoment

Wort zum Tage
Der Gethsemanemoment
16.03.2019 - 06:20
07.02.2019
Melitta Müller-Hansen
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

„Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Jesus sagt das zu Judas, der mit einem Trupp Soldaten anrückt und dem Freund einen Kuss auf die Wange drückt. Die Macht der Finsternis – eine Macht, die alles ins Gegenteil verkehrt. Ein Kuss wird zum Verrat. Ein Unschuldiger gefangen genommen. Ob es Gottes Plan ist – wie es an manchen Stellen der Passionsgeschichte scheint? „Der Menschensohn muss leiden“. Ein von Gott gewolltes Muss? Das kann ich nicht glauben. Das wäre zynisch. Wenn die Finsternis Macht bekommt, verstummt etwas in mir; und das ist die Erfahrung vieler, die an Gott hängen. Alle Worte, alle Kategorien versagen. Es ist die Erfahrung von Gethsemane, der tragischste Moment in der Passion Jesu. Nicht der Schrei Jesu am Kreuz „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ ist es. Schlimmer, als dass Gott in die Ferne rückt, ist dieser Gethsemanemoment: Die Finsternis übernimmt die Macht. Gott und das Böse sind nicht mehr auseinanderzuhalten. Man weiß nicht mehr, wessen Wille geschieht.

Es ist ein Herbsttag im Jahr 1939 in Polen. Die Familie ist auf dem Acker beim Rübennachlesen. Plötzlich sieht die junge Frau am Waldrand die deutschen Panzer anrollen wie stählerne Tiere. „Ich warf mich hin, legte mich flach in das teils schon ausgepflügte Feld und betete, betete um Bewahrung, um Gottes Nähe, um seine rettende Hand. Und ich fühlte plötzlich eine seltsame innere Sicherheit – wie ein warmes Licht, das mich einschloss.“ So erzählt sie es später ihrem Pfarrer Christian Lehnert. „Gott ist nah, dachte ich, fühlte ich tief in mir. Wie entrückt war ich in dem bedrohlichen Lärm, hörte nichts, sah nichts, war geborgen in einem Trost, der nicht von dieser Welt war.“ Später wird sich diese Frau ein Leben lang fragen, ob das schlicht naiv war, sich so von Gottes Nähe umgeben zu glauben. Denn am nächsten Tag finden sie auf dem Nachbarhof alle Menschen ermordet, darunter ihre beste Freundin. „Warum lebte ich und die anderen nicht? ... Wenn Gott nahe ist, geschehen Dinge, die den Menschen übersteigen. Gott ist zu viel für uns…“ Das ist ihr Fazit. (aus Christian Lehnert: Gott in einer Nuss, Suhrkamp 2017, S.22 und 23)

Ein Gethsemanemoment.

Wie erzählt man von der eigenen Rettung, ohne die zu verschweigen, die nicht gerettet wurden? Wie kann man sie einschließen? Wie kann man von Erlösung reden, wenn ein geliebter Mensch nach kurzer, schlimmer Krankheit stirbt, wo doch sein Leben so abgerissen wurde und seine Lieben fast zerbrechen unter dieser Leere, die er hinterlassen hat? Da entzieht sich Gott dem Sagbaren. Wird sich zurückziehen und wieder da sein.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.02.2019
Melitta Müller-Hansen