Die Frau aus Magdala

Wort zum Tage
Die Frau aus Magdala
09.08.2021 - 06:20
04.08.2021
Melitta Müller-Hansen
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Wie ist es möglich, einen über 2.000 Jahre alten biblischen Text zu lesen und ihn auf die eigene Gegenwart zu beziehen? Ein Grund liegt darin, dass in den Texten selbst diese Dimension enthalten ist. Es gibt die erzählte Zeit und die Erzählzeit. Das Markusevangelium etwa ist erst 70 nach Christus aufgeschrieben und versetzt die erzählte Jesuszeit, also die Jahre 30-33 nach Christus, in die eigene Gegenwart. Ein Ort wie Magdala kann dann ein Schlüsselwort werden. Eine große Hafenstadt am See Genezareth zur Zeit der römischen Besatzung. Im Jahr 67 nach Christus wird sie von den Römern zerstört. Wer überlebt, wird auf dem Sklavenmarkt verkauft. Für die ersten Adressaten des Markusevangeliums ruft dieser Ort sofort Assoziationen hervor wie für uns heute etwa der Ort Srebrenica. Wenn sie „Magdala“ hören, haben sie zerstörte Häuser vor Augen, Schönheit zu Staub zerfallen, Gräuel, die Menschen hier angetan wurden. Magdala, ein Schlüsselwort. Sollte es ein Zufall sein, dass in den Evangelien der engsten Vertrauten Jesu dieser Beiname gegeben wird? Maria aus Magdala. Es mag ihre Heimatstadt sein, also etwas über ihre Herkunft aussagen. Maria, die aus der Hafenstadt vom See Genezareth. Doch erzählen die Evangelien von sieben Dämonen, die sie gequält haben sollen. Ein Bild für Kräfte, Emotionen, körperliche und seelische Zustände, in denen ein Mensch sich wie zerteilt erlebt. Nichts passt mehr zusammen. Totale Verwirrung. Wer Zeugin einer untergegangenen Lebenswelt wird, wer gezeichnet ist von Krieg, Gewalt und Schmerz, und selbst überlebt, kann da hineingeraten. Wir wissen es von Menschen, die bei uns Zuflucht suchen und ihre sieben Dämonen mitbringen. Sie unsererseits zu dämonisieren, ist brutal.

Maria aus Magdala ist dann ein besseres Schicksal beschieden. Sie begegnet dem Menschensohn, der sie von den Dämonen befreit, sie heilt. Findet sie wieder einen Sinn im Leben?

In der erzählten Zeit der Jesusbewegung wird sie dann die Zeugin unter dem Kreuz auf Golgatha. Nicht nur als Einzelperson für sich. In der Erzählzeit der Evangelien steht sie unter dem Kreuz für die vielen aus Magdala. Sie verkörpert das Schicksal ihrer Stadt.

Maria, warum weinst du? Der Auferstandene Jesus stellt ihr diese wunderbare Frage am Ostermorgen. Sie ist die einzig angemessene Frage an Menschen aus Somalia, Afghanistan, Eritrea. Sie öffnet. Sie vertreibt Dämonen. So wird die aus Magdala die Apostelin der Auferstehung.

Es gilt das gesprochene Wort.

04.08.2021
Melitta Müller-Hansen