Die Frau mit den schwarzen Haaren

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Kadir Celep

Die Frau mit den schwarzen Haaren
mit Pfarrer Michael Becker
18.06.2022 - 06:20
14.01.2022
Michael Becker
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Der alte Mann, schlohweiße Haare, sitzt im Frisiersalon. Der Mann will schön sein für die Welt. Die Welt bewundert und liebt den alten Mann. Es ist Alexander von Humboldt (1769 – 1859). Er sitzt im Frisiersalon und wird gepflegt. Eine junge Frau kommt herein. Eher ungepflegt. Mit langen, schwarzen Haaren. Sie will ihre Haare nicht pflegen lassen, sondern verkaufen. Sie braucht das Geld. Der Frisör freut sich. Das wird ein Schnäppchen. Die Frau will sechzig Francs, heute etwa fünf Euro. Der Frisör bietet einen Euro. Das Geschäft geht schief, scheinbar.

          Aber da ist der alte Herr, Alexander von Humboldt. Weit gereist, viel geliebt mit seinen fast neunzig Jahren. Das ganze Wissen der Welt ist in seinem Kopf. Er war in Südamerika, Russland, in der Wüste. Hat Berge bestiegen und Flüsse befahren; Karten gezeichnet und Blumen gemalt. Er kennt die Welt. Vielleicht hasst er Schnäppchenjäger. Die Frau tut ihm leid. Er bittet um eine Schere. Der Frisör gibt sie ihm. Die Frau ist ängstlich. Der alte Herr steht aus dem Stuhl auf und geht zu der Frau. Die zittert etwas. Ganz sanft fasst er die Frau am Kopf, sucht sich ein Haar. Ein langes, schwarzes Haar. Das schneidet er ab. Steckt es in seine Tasche. Dann drückt er der Frau einen Schein in die Hand. Die verschwindet schnell. Auf der Straße, sieht der Alte noch durch die Scheibe, macht die Frau

ihre Hand auf. Schaut sich das Geld an. Es sind etwa fünfzig Euro, 500 Francs. Für ein Haar. Sie erschrickt.

          Der alte Herr schmunzelt. Das hat er gewusst. Er weiß alles. Er ist begnadet. Selbst das weiß er. Das ganze Wissen der Welt ist in seinem Kopf. Aber Wissen allein genügt nicht, weiß der Alte auch. Noch wichtiger ist Güte, Wärme, Herz. Sonst ist die Welt eiskalt. Die Schnäppchen retten uns nicht. Das ewige Rechnen macht uns krank. Was ist das ganze Wissen der Welt gegen den einen Moment Herzenswärme? Nichts. Wer gibt, bekommt auch, denkt Humboldt. Und gibt, wird geliebt dafür. Die Frau ist glücklich. Der Frisör ist beschämt. Humboldt ist zufrieden. Alles ist ersetzbar. Nur Liebe nicht. Liebe vergisst man nicht. Jeden Tag hört und liest man am liebsten Geschichten von der Liebe, von gütigen Herzen. Und dankt Gott dann im Stillen. Hoffentlich. Dass er uns nicht alleine lässt in der rauen Welt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

14.01.2022
Michael Becker