Die Summe eines Lebens

Wort zum Tage
Die Summe eines Lebens
13.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrer Michael Becker

Er hat viel gekämpft im Leben. Und oft verloren. Das hat den englischen Professor Bertrand Russell (1872 – 1970) aber nicht entmutigt. Er hat weiter gekämpft. Nie mit Waffen, immer mit Worten. Für den Frieden in der Welt, für die Rechte der Frauen, für ein klares Denken ohne Schmus und Schnörkel hat er gestritten. Im schon hohen Alter schreibt er einen Satz, der ihm auf dem Herzen liegt wie die Summe seines Lebens.

 

Er schreibt: Fühle dich keiner Sache völlig gewiss. Das ist ihm wichtig. Es ist seine Herzensangelegenheit geworden. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss. Habe immer eine Art Restzweifel. Vielleicht hast Du ja Unrecht, vielleicht passt doch nicht zusammen, wofür Du kämpfst. Setze kleine Fragezeichen; vor allem hinter deine eigenen Wünsche.

 

Das tut gut. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss. Man kämpft dann anders, streitet anders. Etwas behutsamer, mit mehr Vorsicht. Vor allem mit Rücksicht auf das, was die anderen planen und wünschen. Gewissheit ist etwas Wunderbares. Aber nicht mehr, wenn man sie unangreifbar macht. Wenn man sein eigenes Recht heraushängen lässt wie eine Flagge aus dem Fenster. Schaut her; hört her, ich bin richtig und die anderen nicht. Das ist schrecklich. Was soll ich mit jemandem reden und streiten, der vorher schon weiß, dass er allein Recht hat? Wie kann ich in der Familie meinen Weg finden, wenn ein anderer ihn schon kennt? Und ständig behauptet, ihn zu kennen? Wie soll ich mit jemandem über Gott und meinen Zweifel sprechen, der immer sagt: Das musst du glauben. So geht Leben nicht.

 

Das Leben braucht Gewissheiten, natürlich. Es braucht aber auch meine Zweifel. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss, ist ein Wegweiser. Kleine Fragezeichen an mich selbst sind hilfreich. Mein Ton wird dann anders, meine Worte (und Stimme) auch. Ich werde etwas leiser; denke immer wieder mal nach. Vor allem aber höre ich zu, bin noch gespannt darauf, was andere sagen. Wie ihre Pläne sind. Wie sie mich sehen und hören. Alles wird echter, wo einer auch zweifelt. An sich. An seinem Glauben. Gott ist gewiss; mir selbst aber längst nicht immer. Ich zweifle, und das ist gut. Dann öffnet sich Gott schon die Tür, durch die er zu mir kommt. Und mich gewiss macht.

11.01.2016
Pfarrer Michael Becker