Die Tugend des Mitgefühls

Wort zum Tage
Die Tugend des Mitgefühls
11.05.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken
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Anscheinend ist nichts so verbreitet wie das Mitgefühl. Und das ist gut so. Wenn in der Ferne oder Nähe ein Unglück passiert, bei dem Menschen zu Schaden kommen, wird sofort ein Mitgefühl wach, das viele Herzen und auch Hände öffnet. Immerhin gehören die Deutschen zu den spendenfreudigsten Menschen in Europa. Besonders in der Weihnachtszeit erhöht sich die Spendenbereitschaft. Der Grund dafür ist die Fähigkeit, das Leiden anderer zu teilen. Dabei ist das Mitgefühl deutlich zu unterscheiden von Mitleid. Dieses Wort hat einen Bedeutungswandel mitgemacht. War es früher einmal gleichbedeutend mit dem Mitgefühl, steckt heute in dem Begriff Mitleid ein gewisser Hochmut gegenüber dem Leidenden. Ernst Klee, Journalist und Ankläger der Menschenverachtung im Dritten Reich, behauptet sogar: „Im Mitleid steckt nicht nur Überheblichkeit, sondern auch die Verachtung gegenüber den Unbrauchbaren, denen eben nur noch Mitleid entgegengebracht wird. Mitleid ist ein Todesurteil. Denn Mitleid tötet.“ Das ist zugespitzt formuliert. Ernst Klee führt aus, das Mitleid bleibe der eigenen Person verhaftet. Mit Mitleid reagiere man sein eigenes Leiden ab und nehme den Leidenden nicht wirklich wahr. Dazu gibt es eine kleine entlarvende Erzählung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Der Pfarrer einer kleinen Gemeinde fordert seine Mitchristen auf, Mitleid mit den Armen zu haben. Ein Zuhörer nimmt sich das zu Herzen und beschließt, den Worten des Pfarrers zu folgen. Am Abend desselben Tages klopft ein abgerissener, hungriger Mann an sein Fenster und bittet um eine Spende für seinen Hunger und dem seiner Frau und seiner Kinder. Der nun mitleidige Hausbesitzer fängt an zu stöhnen: „Oh, was tut mir dieser Mann leid! Oh, welch ein Mitleid empfinde ich!“ Als er das dreimal gesagt hat, sagt seine Frau zu ihm: „Wenn du solches Mitleid hast, warum öffnest du ihm nicht die Tür und gibst ihm das Erbetene?“ Das antwortet der Mitleidige: „Bist du nicht bei Trost? Wenn ich das tue, geht es ihm doch gut und ich kann kein Mitleid mehr mit ihm haben!“ So die zynische Pointe. Ganz anders das Mitgefühl. Hier fühlt man das Leid anderer, als wäre es das eigene Leid. Und so, wie man das eigene Leid zu lindern versucht, versucht man es auch bei den Leidtragenden. Das erfordert Einsatz wie zum Beispiel bei den Ärzten ohne Grenzen, das erfordert Mut und den Verzicht auf Konsum zugunsten derer, die Geld zum Überleben brauchen. Jesus Christus bewertet am Ende das Leben eines Menschen nicht danach, ob er Mitleid habe, sondern danach, wie er sein Mitgefühl umgesetzt hat: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Geschwister, das habt ihr mir getan!“ (Matthäus 25,40).

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken