Die Turmuhr-Werkstatt

Wort zum Tage
Die Turmuhr-Werkstatt
10.04.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner
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Sobald die Tür zur Werkstatt aufgeht, hören wir das Ticken. Aus einer Ecke surrt es, als sich bei einer alten mechanischen Turmuhr das Gewicht von selbst aufzieht. Als das schwere Rundeisen an seinem Anlaufpunkt angekommen ist, hört das Rasseln der Spule auf. Im Gleichmaß läuft jetzt das Räderwerk.

 

Der Meister erklärt uns die Funktion der alten Turmuhr-Antriebe. Er zeigt uns, wie er mit Gangreglern die angezeigte Zeit schneller oder langsamer laufen lassen kann. Manche frisch aufgezogenen Räderwerke werden noch drei Tage lang vor sich hin ticken, sagt er. Dann geht er mit uns zur Mitte des Fabrikraumes, wo eine verrostete historische Turmuhr aufgebockt steht. Ihr fehlen etliche Zahnräder. Verbogene Stangen ragen aus dem Getriebe heraus. Verwitterte Stahlseile hängen herunter. Das ist unsere Uhr, vom einstigen Turm der Berliner Versöhnungskirche. Sie hat an der Bernauer Straße mitten im Todesstreifen der Berliner Mauer gestanden. Seit 58 Jahren, seit dem Mauerbau 1961, steht die Uhr still. Ihre Zeit war abgelaufen.

 

Alte Menschen aus unserer Versöhnungsgemeinde erzählten mir, dass sie an dieser Turmuhr die Zeit gelernt haben. Von anderen hörte ich, die sehnlich auf die Öffnung der Mauer warteten, und doch vorher gestorben sind. Vor drei Jahrzehnten hat sich im Umbruch von 1989 eine neue Epoche Bahn gebrochen für unser Land und Europa. Für viele war es die Chance des Lebens. Andere bekamen zu fühlen, dass sie zu alt waren, um noch gebraucht zu werden. War ihre Zeit schon abgelaufen?

 

Ich schaue an den Wänden der Turm-Uhrwerkstatt entlang. Sie hängen voller Zifferblätter. Einzelne Uhrzeiger, in allen Formen und in jeder Größe, sind unter der Decke aneinandergereiht. Wieviel ist uns, den Lebenden, an Zeit bemessen? Im Psalm 90 heißt es: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn‘s hoch kommt, so sind‘s achtzig Jahre“. Im Wissen um eine Gotteskraft, aus der alles Leben kommt, und wohin es am Ende zurückfließt, dichtet der Psalmbeter: „Tausend Jahre sind vor dir, Gott, wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“.

 

Die seit 58 Jahren still stehende Turmuhr der Versöhnungskirche wollen wir reparieren. Deshalb sind wir mit ein paar Menschen aus unserer kleinen Gemeinde hier in die Turmuhr-Werkstatt gefahren. Mit der Unterstützung vieler, die für das Projekt „Uhr-der-Versöhnung“ spenden, wird sie im Sommer wieder in Betrieb genommen. Einst schien die Zeit abgelaufen für das Uhrwerk aus dem Todesstreifen. Bald schnurren wieder die Zahnräder, wandern die Zeiger. Sie künden vom Leben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner