Die Zunge zähmen

Wort zum Tage
Die Zunge zähmen
11.09.2018 - 06:20
27.07.2018
Angelika Obert
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Genau weiß er es nicht, wie ihm sein Smartphone abhanden gekommen ist. Vielleicht hat er es irgendwo im Park liegen lassen. Aber vielleicht wurde es auch gestohlen. Am Anfang hält er beides für möglich. Aber als dann irgendwann in trauter Runde die Rede mal auf die Ausländer kommt, weiß er es auf einmal ganz genau zu erzählen, wie ihm sein Handy gestohlen wurde von einem Rumänen auf dem Parkplatz. Mit dieser Geschichte erntet er allgemeines Mitgefühl und einhellige Empörung. Das fühlt sich gut an. Fortan wird er bei dieser Version bleiben und allmählich selbst überzeugt sein, dass es genauso war. Richtig gelogen ist es ja nicht und trifft auch keinen Bestimmten. So wird aus dem öden Verlust des Telefons jedenfalls eine Story, über die man sich richtig aufregen kann. Und aus dem möglichen Schussel ein eindeutiges Opfer.

 

Ich glaube, jeden Tag werden unzählige solcher Geschichten erzählt, die nur vielleicht stimmen, die genauen Umstände jedenfalls dramatisieren, damit man sich auch recht von Herzen empören kann. Das belebt das Gespräch und stellt so etwas wie Einigkeit am Tisch her. Ob es nun die Ausländer betrifft oder die abwesende Kollegin, man denkt im Eifer des Auftrumpfens nicht dran, dass da jemandem Schuld aufgeladen wird, dass Vorbehalte geschürt und verfestigt werden. Ich frage mich: Wie weit ist der Weg von diesen kleinen Dramatisierungen im Alltag zu den reinen Lügengeschichten, die sich in den Weiten der virtuellen Welt finden? Wo fängt es an, dass das Bauchgefühl über die Wahrheit entscheidet? Und wo führt es am Ende hin? Wer macht sich die kleinen Entlastungsgeschichten zunutze, um den großen Hass zu schüren?

 

Es gab Zeiten, da hat man sich bei Tisch erzählt, dass die Nachbarin immer so komisch guckt. Und dann kamen andere und haben sie als Hexe identifiziert und verbrannt. Mit dem Gerede, das nicht so ganz stimmte, fing es an. Auch schon zu biblischen Zeiten und unter den ersten Christen offenbar: „So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet‘s an! Und die Zunge ist auch ein Feuer. Sie setzt des Lebens Kreis in Flammen, das unruhige Übel voll tödlichen Gifts!“ (Jak. 3,5f.) Das schreibt offensichtlich höchst beunruhigt der Apostel Jakobus an seine Gemeinde. „Kein Mensch kann die Zunge zähmen!“ stöhnt er noch.

 

Aber nach einem Sommer voller Waldbrände und in einer Zeit voller Lügengeschichten könnte man doch wenigstens Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Wenn man nicht so genau weiß, wie es war, müsste es doch möglich sein, zumindest ein „vielleicht“ einzufügen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

27.07.2018
Angelika Obert