Ein Kleid für alle

Wort zum Tage
Ein Kleid für alle
08.11.2017 - 06:20
01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Ein Kleid hat in meinem Schrank einen besonderen Platz. In einer Kiste, in Seidenpapier gewickelt. Fein gebügelt wartet es auf seinen nächsten Einsatz. Es ist das Taufkleid meiner Familie. Bei uns trägt jedes Kind dieses Kleid zur Taufe.

 

Das lange Baumwollkleid ist über 100 Jahre alt. Meine Urgroßmutter Maimuna hat es genäht, die feine Spitze geklöppelt und die vielen Bänder angebracht. An den Schultern kann man je nach Geschlecht des Kindes ein rosafarbenes oder ein blaues Seidenband einziehen. Das Kleid ist trotz seines Alters noch immer strahlend weiß und seine bewegte Geschichte sieht man ihm nicht an. Es ist die Geschichte meiner Familie.

 

Meine Urgroßmutter hat dieses Kleid durch den Krieg gerettet. Als sie mit ihren kleinen Kindern aus Hirschberg in Schlesien flüchtete, hat sie nur dieses Kleid und ihre wertvolle Brillantbrosche mitgenommen. Warum ihr das weiße Taufkleid so wichtig war, hat sie niemandem erzählt. Ich kann es nur ahnen.

 

Hing sie an der feinen Handarbeit, oder an einem Stück aus der Heimat? Ihre vier Töchter hatten das Taufkleid getragen. Vielleicht wollte sie die unbeschwerte Familienzeit und die fröhliche Stimmung bei den großen Familienfesten nicht vergessen. Oder sie wollte sichergehen, dass auch künftig alle Kinder unserer Familie in diesem Kleid getauft werden. Sie verband damit die Hoffnung, dass die Familiengeschichte nach dem Kriegsleid weitergehen würde. Auch, wenn alle Erfahrung im Moment dagegen sprach: das Leben so bedroht und soviel Angst in den Bombennächten. Vielleicht erinnerte sich meine Urgroßmutter gerade im Leid daran, dass sie getauft war. Und das gab ihr Überlebenswillen.

 

Ein Taufkleid ist mehr als ein Kleidungsstück. Es ist ein Symbol. In der Bibel steht im Galaterbrief: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ (Galater 3,27). Das weiße Taufkleid steht dafür, dass die oder der Getaufte neu geschaffen ist. Neu geboren durch den Heiligen Geist, hat er oder sie Christus wie ein Kleid angezogen. Mit jeder Taufe beginnt ein neuer Weg. Ein traditionelles Taufkleid ist immer zu lang, um zu zeigen, dass der Täufling in den Glauben immer weiter hineinwachsen kann.

 

Ich bin froh, dass unser Familientaufkleid in den Wirren der beiden Weltkriege erhalten geblieben ist. Heute leben wir alle weit verstreut. Taufen feiern wir im kleinen Kreis. Auch wenn die ganze Familie nicht extra anreist, das Kleid ist immer dabei. Es war schon in Heidelberg, Berlin, Frankfurt am Main und in Dörnten bei Goslar. Gerade vor ein paar Wochen hat es mein Sohn getragen. Nun schicke ich es zu meiner Cousine weiter. Das Taufkleid hält uns alle zusammen und es steht für eine Hoffnung, die wir uns selbst nicht geben können. Eine lebendige Hoffnung, die durchs Leben trägt.

01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese