Einander anschauen

Wort zum Tage
Einander anschauen
23.11.2017 - 06:20
01.11.2017
Pfarrerin Angelika Scholte-Reh
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Es gibt Menschen, die vergisst man ein ganzes Leben nicht. Meine Religionslehrerin war so ein Mensch. Wir gingen gerne zu ihr, weil sie die biblischen Geschichten so packend und lebensnah erzählte und immer ein Bild oder eine Bastelei dazu mitbrachte. Das Besondere an Frau H. waren ihre Augen. Sie blickten jedes der Kinder voller Wärme und Liebe an. Selten verlor sie die Geduld und fast immer hatte sie ein gutes Wort für uns.

 

Viele Jahre später, als ich Vikarin war, bin ich Ihr wieder begegnet. Sie saß im Gottesdienst zwei Reihen vor mir. An ihren freundlichen Augen habe ich sie dann wiedererkannt. Als sie mich ansah, keimte auch in ihrem Blick Erinnerung. Irgendwoher … Ich sage ihr meinen Namen und sie erinnert sich, will wissen, was ich jetzt mache. Ich erzähle, dass ich ihrem Vorbild gefolgt bin und wir kommen ins Gespräch.

 

„Wie haben Sie das eigentlich gemacht?“ will ich von ihr wissen. „Was denn?“ „Dass Sie selbst die größten Rabauken so geduldig angenommen und uns alle mit so viel Wertschätzung beschenkt haben?“ Ich bin gerade im Schulvikariat und manchmal brauche ich für die Rabauken echt viel Geduld. Sie antwortet: „Ich habe mich gefragt, wie Jesus sie sieht. Und dann habe ich an jedem Kind irgendetwas Besonderes und Liebenswertes gefunden.“ Nach einem kurzen Schweigen spricht sie nachdenklich weiter: „Manche Kinder haben es mir wirklich schwer gemacht.“ Ich selbst kann mich noch gut an Hannes aus meiner Parallelklasse erinnern. Er hat nie zugehört und ständig gestört. Das war manchmal anstrengend. „Doch …“ sagt sie, „selbst das schwierigste Kind hat etwas, das es gut kann, und etwas, das liebenswert an ihm ist.“ „Auch Hannes?“ Auch sie erinnert sich. „Ja, auch Hannes! Weißt Du eigentlich, dass er heute Handwerker und schon Vater ist? Und er ist einer von denen, die mich immer auf der Straße grüßen. Er mag kein guter und sicher auch kein folgsamer Schüler gewesen sein, ganz sicher ist er ein guter Mensch!“

 

Wir haben noch eine Weile miteinander gesprochen und ihre warme Art hat mir wohlgetan. Gelernt habe ich schon als Kind von ihr, dass keine Schulnote etwas über den Wert eines Menschen aussagt. Jeder und jede hat etwas Liebenswertes. Und wenn wir das wahrnehmen, helfen wir einem Menschen zu wachsen und sich zu entfalten. Liebe schafft die Atmosphäre, in der Menschen atmen, leben und wachsen können.

01.11.2017
Pfarrerin Angelika Scholte-Reh