Einen Anfang wagen

Wort zum Tage

Jukan Tateisi / Unsplash

Einen Anfang wagen
mit Veronika Krötke
10.09.2021 - 06:20
02.09.2021
Veronika Krötke
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Lasst uns enden alle Klagen, lasst uns einen Anfang wagen.

 

Schwarz senkt sich die Nacht herab. Löscht die letzten Lichter des Tages.

Sie sitzt am Schreibtisch und hat sich Kerzen angezündet. Vor ihr liegt ein leeres Blatt Papier.

Sie findet die Worte nicht, die sie schon lange sagen will. Ab und an schaut sie auf das Telefon, aber es klingelt nicht. Sie steht auf, bläst die Kerzen aus.  In der Kneipe gegenüber sind noch Leute. Endlich Leben. Sie sitzt allein an der Bar.

 

Hell breitet sich Morgenlicht aus. Der Tag bricht an.

Gerade ist die Tür ins Schloss gefallen. Endlich ist er weg.

Sie räumt die letzten Kerzenreste auf und spült die

Gläser. Essen kann sie noch nichts. Deckt sich stattdessen mit Parfum zu. Draußen sticht ihr die Sonne in die Augen. Es ist warm und hell. An der Straßenbahnhaltestelle fühlt sie sich verloren.

 

Lasst uns enden alle Klagen, lasst uns einen Anfang wagen.

 

Schwarz senkt sich die Nacht herab. Löscht die letzten Lichter des Tages.

Vorhänge werden zugezogen, Türen verschlossen. Letzte Dinge werden im Bett besprochen, bevor sich beide auf ihre Seite drehen. Sie schläft schon bald und er hört leise ihren Atem. Eine Weile betrachtet er sie, dann steht er auf, fährt den Laptop hoch und holt aus der Küche eine Flasche Wein.

 

Hell breitet sich Morgenlicht aus. Der Tag bricht an.

Er hört die Kaffeemaschine durchlaufen und riecht

die aufgebackenen Brötchen. Sein Kopf ist noch schwer, aber er geht in die Küche. Sie reicht ihm ein Glas Wasser und fährt ihm mit einer Hand durchs Haar.

Als beide am Tisch sitzen, trinkt er einen Schluck Kaffee. Sie nimmt seine Hand. Und dann erzählt er.

 

Lasst uns enden alle Klagen, lasst uns einen Anfang wagen.

 

Schwarz senkt sich die Nacht herab. Löscht die letzten Lichter des Tages.

Im Haus ist es immer noch hell. Freunde sind gekommen.

Die Kinder sind schon im Bett, nun ist endlich Zeit zum Reden. Es geht viel um alte Zeiten und wie es heute weitergehen soll. Sie sind froh, dass die Freunde gekommen sind. Wie lang sind sie her, diese durchgequatschten Nächte?

 

Hell breitet sich Morgenlicht aus. Der Tag bricht an.

Hektik in der Küche. Stau im Bad. Die Kinder müssen los. Quengeln, Geschubse, Generve.

Die Freunde schlafen noch. Sie haben noch viel diskutiert. Oft aneinander vorbei. Ob das was ausmacht, wird sich zeigen. Ein Gegenbesuch ist verabredet.

 

Lasst uns enden alle Klagen, lasst uns einen Anfang wagen,

singend, dass wir nicht verzagen, diesen Tag.

(aus Der Singvogel, Nr. 1 „Ein Morgen leuchtet hell ins Land“)

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

02.09.2021
Veronika Krötke