Erkennen, wie ich erkannt worden bin!

Wort zum Tage
Erkennen, wie ich erkannt worden bin!
23.05.2017 - 06:20
22.05.2017
Pfarrer Jörg Machel

An­fang März wäre Moi­de­le Bickel 80 Jah­re alt ge­wor­den und man hät­te sie ge­drängt, dies ganz groß zu fei­ern. Moi­de­le Bickel war die „Gran­de Dame“ un­ter den deut­schen Ko­stüm­bild­ne­rin­nen und ihr Name hat Klang weit über die deut­schen Gren­zen hin­aus. Den Fi­gu­ren auf der Büh­ne Ge­stalt zu ge­ben, war ihr gro­ßes Ta­lent. Re­gis­seu­re wie Claus Pey­mann, Pe­ter Stein, Ro­bert Wilson, Mi­cha­el Hane­ke wuss­ten das zu schät­zen und ar­bei­te­ten gern mit ihr zu­sam­men. Es lie­ße sich eine lan­ge Li­ste von In­sze­nie­run­gen auf­zäh­len, de­nen Moi­de­le Bickel mit ih­rer Aus­stat­tung ei­nen Stem­pel auf­drück­te.

Doch das al­les ver­lor an Be­deu­tung, als sie am Kar­frei­tag ver­gan­ge­nen Jah­res die Nach­richt be­kam, dass sie Krebs hat. Moi­de­le sprach von dem Mon­ster in ih­rem Bauch, das ihr nach dem Le­ben trach­te­te. Sie ließ sich sehr ge­nau über ihre Ge­ne­sungs­aus­sich­ten und die Wahr­schein­lich­keit ei­nes bal­di­gen To­des in­for­mie­ren. In ei­nem sehr be­we­gen­den Au­gen­blick traf sie die Ent­schei­dung, kei­nen ihr aus­sichts­los er­schei­nen­den Kampf zu füh­ren, son­dern ihr Ster­ben an­zu­neh­men und ganz be­wusst auf den Tod zu­zu­ge­hen.

Da­für blie­ben ihr ziem­lich ge­nau fünf­zig Tage, die fünf­zig Tage zwi­schen Ostern und Pfing­sten. Und alle, die da­bei wa­ren, konn­ten mit­er­le­ben, dass in die­ser Zeit mehr ge­schah als nur Ab­schied neh­men und trau­rig sein. Es ent­wic­kel­te sich auch ein er­war­tungs­vol­les Aus­schau hal­ten, ob da noch et­was ist, et­was kommt; ob da viel­leicht doch mehr pas­sie­ren wird, als dass man ein­fach nur so aus dem Le­ben ver­schwin­det.

Die Ge­sprä­che mit ihr chan­gier­ten zwi­schen Zwei­fel und Hoff­nung. Ei­nen Pau­lu­stext ließ sie sich mehr­mals vor­le­sen und sprach ihn schließ­lich selbst: „Wir se­hen jetzt durch ei­nen Spie­gel in ei­nem dunk­len Bild; dann aber von An­ge­sicht zu An­ge­sicht. Jetzt er­ken­ne ich stück­wei­se; dann aber wer­de ich er­ken­nen, gleich­wie ich er­kannt wor­den bin.“ In die­sen Sät­zen hat­te der Tod et­was Ver­hei­ßungs­vol­les. Wie am Abend der Pre­mie­re, kurz be­vor sich der Thea­ter­vor­hang zum er­sten Mal hebt und die Zu­schau­er ge­spannt dar­auf war­ten, was ih­nen nun ge­bo­ten wird. Viel­leicht wird es eine ganz gro­ße Auf­füh­rung, viel­leicht bleibt der Vor­hang aber auch un­ten, mal schau­en.

Für Moi­de­le Bickel wa­ren die fünf­zig Tage zwi­schen Ostern und Pfing­sten angefüllt mit dem ste­tig wie­der­keh­ren­den Ekel ge­gen­über all den furcht­ba­ren Sym­pto­men ih­rer Krank­heit, von zu­neh­men­der Schwä­che, aber auch mit wun­der­ba­ren Be­geg­nun­gen. Enge Weg­ge­fähr­ten und Freun­de ka­men, spra­chen mit ihr, la­sen vor, schwie­gen oder san­gen für sie.  Sel­ten im Le­ben konn­te sie so viel Nähe er­le­ben und auch zu­las­sen wie in die­sen Wo­chen vor ih­rem Tod.

Sie hat ge­se­hen und sie wur­de ge­se­hen – eine be­rüh­ren­de Zeit der Wand­lung war das!

22.05.2017
Pfarrer Jörg Machel