„Fünf vor zwölf“

Wort zum Tage
„Fünf vor zwölf“
13.04.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner
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Der schwere Eisenschlüssel ist fast 14 Zentimeter lang. Als der 79jährige Publizist Jörg Hildebrandt aus seinem Leben erzählt, hält er den Schlüssel stets in der Hand. Diesen hat er von seinem Vater bekommen, der an der Berliner Versöhnungskirche Pfarrer gewesen ist. Hildebrandt Junior war dort, an der Sektorengrenze der Bernauer Straße, ehrenamtlicher Uhrenwart. Mit dem großen Schlüssel öffnete sich die Tür zum Turm. Die Elektroanlage für den Gewichtsaufzug musste von ihm geprüft werden. Und falls die Turmuhr vor- oder nach ging, konnte er sie am Räderwerk regulieren.

 

Vom August 1961 erzählt Jörg Hildebrandt. Als in Berlin die Mauer gebaut wurde. 2.000 Menschen, die auf der Ost-Berliner Seite der Bernauer Straße wohnten, wurden zwangsumgezogen.

 

Das Pfarrhaus der Familie Hildebrandt stand im sowjetischen Sektor. Längst war es durch die Grenzziehung eingemauert, ebenso wie die Versöhnungskirche und das Gemeindehaus. Am 26. Oktober 1961 kontrollierten Bewaffnete und Staatssicherheit in zivil den Auszug aus dem Pfarrhaus. Irgendwie hat er es doch geschafft, erzählt Jörg Hildebrandt, noch ein letztes Mal mit seinem Schlüssel in den Kirchturm zu gelangen.

 

Er erreicht die Turmuhr, für die er verantwortlich war. Er ist jung, mit seinen Einundzwanzig. In ihm brodelt es vor Zorn und vor Demütigung. Der Traum, dass es ein gemeinsames, freies Berlin geben würde, ist ausgeträumt. Er spürte in sich die Empörung, dass auch die Westmächte Ost-Berlin und die DDR abgeschrieben hatten. Unten im Hof stehen die DDR-Grenzsoldaten. Spontan entscheidet er sich, die Uhr anzuhalten. Mühevoll dreht er die Zeiger auf allen vier Zifferblättern auf die gleiche Zeit: „Fünf vor zwölf“.

 

Als die Versöhnungskirche 1985 noch gesprengt wurde, war es irgendwie gelungen, die Turmuhr kurz vorher auszubauen. Aber sie steht still, seit 58 Jahren, seit Jörg Hildebrandt als Jugendlicher das letzte Mal auf dem Turm war. Jetzt möchte er dabei sein, wenn die Uhr wieder zum Leben erweckt wird. Die Versöhnungsgemeinde sorgt gegenwärtig mit dem Fundraising-Projekt „Uhr-der-Versöhnung“ für die Restaurierung.

 

Zum Auftakt der Spendenaktion wurde in das Berliner Gebäude von Brot für die Welt geladen. Es steht in der Nähe der Bernauer Straße und wird die wieder laufende Turmuhr dauerhaft präsentieren. Jörg Hildebrandt ist Ehrengast der Veranstaltung. Mit dem alten Turm-Schlüssel in der Hand erzählt er, wie er einst, im geteilten Berlin die Uhrzeit angehalten hat. Dann singt der Chor eine Vertonung vom Psalm 31: „Meine Zeit, Gott, steht in deinen Händen“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner