Gegen den Augenschein

Wort zum Tage
Gegen den Augenschein
02.02.2019 - 06:20
03.01.2019
Ulrike Greim
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Heute wird sie wieder in der Kirche sitzen, zum Abendsegen. Vorletzte Reihe links. Wie öfter. Sie geht ja nie nach vorn. Will nur die Lieder hören. Die vertrauten Texte. Irgendetwas Tröstliches. Sobald die Orgel die ersten Akkorde spielt, senkt sich ihr Puls.

Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint. Der Stiefvater – wütend war er und oft betrunken, übergriffig und brutal. Ein Leben lang der schwarze Schatten auf ihrer Seele. Ähnlich gestrickte Männer hatten es immer leicht mit ihr.

Dann floh sie in die große Stadt. Und fand die falschen Freunde. Die Straße, die Gosse.

Ein, zwei die es gut mit ihr meinten. Die Sozialwohnung. Der Job in der Großküche.

Und die Kirche. Nicht, dass sie sich wohlfühlt unter diesen Bürgerlichen. Sie fühlt sich immer zu unansehnlich, nicht dazugehörig. Aber das drückt sie weg. Denn sie will die Worte hören, die gelesen werden, da vorne am Pult.

„Der HERR ist König; des freue sich das Erdreich und seien fröhlich die Inseln, so viel ihrer sind.“ (Ps 97, 1ff)

Ungewöhnlich – diese Worte, aus einer anderen Welt, poetisch. Sie mag das. Den Vorleser mit der tiefen ruhigen Stimme.

„Gerechtigkeit und Recht sind seines Thrones Stütze.

Feuer geht vor ihm her

und verzehrt ringsum seine Feinde.

Seine Blitze erleuchten den Erdkreis,

das Erdreich sieht es und erschrickt.“

Das will sie glauben, dass es so einen Gott gibt, vor dem das Erdreich erschrickt. Die Mächtigen zittern, sich die Gewalttätigen fürchten.

Eines Tages, so hört sie die Worte aus Psalm 97, eines Tages wird er mit Feuer kommen. Und die Unrecht taten, werden von seinem heißen Atem verzehrt. Seine Blitze machen die Erde hell. Und alles, was versteckt getan wurde, kommt ans Licht.

Berge schmelzen wie Wachs.

Dass sich ihre Berge abtragen lassen – nun ja, den Anfang hat sie schon erlebt.

Ganze vier Jahre hatte die Sozialarbeiterin geackert, ihr die Idee von einem anderen Leben zu geben. Wer einmal durch die Maschen fiel, hat es schwer, wieder zu vertrauen.

Zwei Therapeutinnen hat sie besucht und sogar eine Kur bekommen. Das war ein erster Frieden.

Gerechtigkeit und Recht – diese schönen Worte in der Kirche. Die Idee von einer Welt, die gut ist. Wo es vielleicht gelingen kann, dass jemand wie sie wieder dazugehören darf. Einfach so.

Meistens platzt der Traum, wenn sie wieder aus der Kirche geht, vor das große Kirchentor tritt und ihr die Realität ins Gesicht knallt. Dieser Gott bleibt in der Kirche.

Aber das Herz will ja wachsen. Und so singt es in ihr einfach weiter. Mutig und gegen den Augenschein.

„Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen und Freude den aufrichtigen Herzen. Ihr Gerechten, freut euch des HERRN und danket ihm und preiset seinen heiligen Namen!“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

03.01.2019
Ulrike Greim