Großmütter

Wort zum Tage
Großmütter
04.07.2016 - 06:23
04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Nur Wenige Frauen haben es geschafft, namentlich erwähnt zu werden in der Bibel. Die Großmutter Lois hat es geschafft. Paulus erwähnt sie in seinem 2. Brief an Timotheus. „Ich erinnere mich an den ungefärbten Glauben in dir, der zuvor schon gewohnt hat in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike“ schreibt er. Familiär, persönlich, intim, das sind für mich die stärksten Passagen der heiligen Schrift. Sie lassen die Menschen hervortreten mit ihrer Geschichte und geben der großen Erzählung Gottes mit seinen Menschen ein Gesicht. Die Großmutter Lois. Im Leben des Paulusschülers Timotheus eine wichtige Frau. Will man etwas von seinem Glauben wissen und sagen, darf sie nicht unerwähnt bleiben.

 

Für mich ist schnell die Brücke geschlagen zu meiner Großmutter Susanna. Die Frau mit den sanften Händen, die mir als Kind die wunderbare Welt der Märchen eröffnete und ihr ganz persönliches Universum der Barmherzigkeit. Ich kenne sie nur als alte Frau mit schwarzem Kopftuch, obwohl sie erst 51 Jahre alt war, als ich geboren wurde. Vornüber gebeugt am Tisch sitzen sehe ich sie, in die feinsten Stickereien und Handarbeiten vertieft. Sie arbeitet auf Bestellung, näht Trachten, Schürzen, Hauben, Vorhänge. Wahre Kunstwerke. Und die Menschen, die das alles bei ihr bestellen, bekommen Seelsorge kostenlos dazu. Sie kann zuhören. Für mich allein hatte ich Großmutter, wenn ich bei ihr übernachten durfte. Wenn ich krank war. Wenn ich mich dazu setzte beim Sticken. Dann erzählte sie Jesusgeschichten, Märchen, Legenden. Dann sang sie mit mir. Und kochte mir einen ihrer legendären Tees aus getrockneten Apfelschalen. Und wenn die Wanderzigeuner mit ihren Blechwaren den Hof bevölkerten, wurden sie bewirtet mit Kuchen und Wasser. Bekamen sie die älteren Anzüge des Großvaters zum Tausch angeboten; und der war darüber mehr als zornig. Der Herrgott, wie sie ihn nannte, wohnte für mich in ihrer Stimme, in ihren Händen, in ihren Augen. Er war auf jeden Fall weiblich. Susanna, die Lilie. Gerne hätte ich wenigstens mit zweitem Namen geheißen wie sie. In der Ahnenreihe meiner Vorfahren und meiner geistlichen Mütter hat sie einen festen Platz.

 

Vielleicht sind das ja die interessanteren Stammbäume. Menschen, die unsere Phantasie angeregt, unser Denken geprägt und unsere Herzensbildung befördert haben, wären darauf sichtbar. Menschen, die uns daran erinnert haben: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Ich bin sicher: Als er diesen wunderbaren Satz im Brief las, sah der Paulusschüler Timotheus seine Großmutter Lois vor sich.

04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen