Hab Erbarmen

Wort zum Tage
Hab Erbarmen
11.05.2016 - 06:23
11.01.2016
Ulrike Greim

Es ist dieses eine Video. Ich sehe es im Internet. Aus einem fahrenden Auto heraus gefilmt. Wackelkamera. Ein Strand und das Meer sind zu sehen. Da liegt eine Leiche. Gesicht nach unten. Arme ausgebreitet. Wieder Sand und Wellen. Und wieder eine Leiche. Offensichtlich angeschwemmt. Zur Seite gedreht. Wieder Sand und Wellen. Dann eine Ansammlung von Leichen. Teils übereinander. Wieder Strand und Wellen. Und Strand und Wellen. Gott sei Dank keine Leichen mehr. Doch dann wieder welche. Viele. Hört das nicht auf? Das Video bricht ab.

 

Ich bin erschüttert. Aufgewühlt. In mir ist etwas in Aufruhr. Ich drücke es weg. Was kann ich schon machen?! Ja – ich weiß, was da an den europäischen Außengrenzen passiert. Wir alle wissen es. Wir sehen andauernd neue Bilder. Wir wissen: Es ist Frühjahr. Jetzt werden es wieder mehr Menschen probieren. Es wird Tote geben. Wieder und wieder. Und immer mehr.

 

(Ich scrolle weiter. Sehe Obama und Merkel mit Kulleraugenbrillen. Dann ein niedliches Katzenvideo. Meldungen über entlaufene Kühe. Nachrichten.)

 

Wer weiß, ob solche Videos echt sind, denke ich dabei Können überall aufgenommen sein. Und schon letztes Jahr. Oder hat jemand die Leute drapiert? Nein, das verwerfe ich. Diese Bilder sind echt – auf die eine oder andere Weise. Datum egal. Nichts macht es leichter.

 

Ich merke Wut. Da sitzt sie – tief in meinem Bauch. Und ich werde ihr keinen Raum geben. Ich habe schließlich einen Job. Also: Frühstück machen, Kind wecken. Brote schmieren. Spülmaschine ausräumen. Noch einmal wecken. Radio hören. Es kommt Musik. Gott sei Dank: Das Leben geht weiter. Der Moderator plaudert fröhlich. Das hilft. Ehrlich. Ich kann nichts machen. Was soll ich tun? Nach Italien fahren und Leichen mit einsammeln und wenigstens würdig beerdigen? Ja – das wäre was. Aber ich mache es nicht.

 

Ich übergehe den Impuls. Ich bin müde. Ich habe meine eigenen Sorgen. Es hilft doch nichts, wenn ich weine. Schreie. Wen interessiert es? Wen interessieren diese Toten? Ihre Namen? Wenigstens ihre Namen?

 

Kind erscheint. Wir frühstücken. Ich packe meine Tasche.

 

Gott im Himmel – das kann doch nicht wahr sein? Gibt es keine Chance, etwas zu tun? Spenden – klar. Mache ich. Flüchtlingen hier helfen – könnte ich viel mehr machen.

 

Bist Du Gott einer, mit dem sie rechnen können? Man kann mit dir über Mauern springen, sagt der Psalmbeter. Aber die nicht? Wo bleibst du, Gott? Da rufen Tausende nach Dir. Nach uns – ja, ich weiß. Aber ich werde irre an den Bildern und möchte sie dir in die Hände werfen. Gott – sieh ihr Elend an. Dreh dich nicht weg. Du Retter. Nothelfer. Erlöser.

 

Darf ich so nicht beten? Ich bete so. Steig vom Himmel herab. Welche Menschgestalt du auch annimmst – ich will dich erkennen. Dir folgen.

11.01.2016
Ulrike Greim