Heimatlos

Wort zum Tage
Heimatlos
23.07.2016 - 06:23
01.08.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Wer mit dem romantischen Gedanken spielt, einmal von der Stadt aufs Land zu ziehen, sollte vorher erst noch „Unterleuten“ und seine charmanten Bewohner kennenlernen. Der fiktive Ort im gleichnamigen Roman von Juli Zeh lässt Landeier und neurotische Städter aufeinanderprallen: schonungslos und offen. Als ein großer Energiebetreiber beschließt, auf den Feldern von Unterleuten Windkrafträder zu errichten, ist es vorbei mit der Idylle und dem scheinbaren Frieden. Plötzlich kämpft jeder gegen jeden. Die schöne Fassade beginnt zu bröckeln. Alte Wunden und Konflikte brechen wieder auf. Keiner kann dem anderen mehr trauen. Ein Aussteigerehepaar aus Berlin hat mit viel Geld und Liebe einen Hof restauriert. Nun träumen sie von Pferdezucht und Seminaren für Manager auf dem Land. Der Brandenburger schüttelt den Kopf: „Als ob das Leben in der Stadt die Leute besser machte. Als ob eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen.“[1] So bringt es der Alteingesessene, der im Dorf das Sagen hat, auf den Punkt. Ich selber wohne im vierten Stock eines Altbaus und träume hin und wieder vom Landleben. Statt eigenen Garten bepflanze und wässere ich nur einen Minibalkon. Am Wochenende besuchen wir oft Freunde mit einer Laube. Ein winziges Stück Rasen mit Gemüsezucht, Zaun an Zaun mit anderen Städtern, die ihre Sehnsucht nach ein wenig Grün hier stillen. Ich bin mehrmals in dieser Stadt umgezogen. Und ich frage mich: Bin ich das, was die Autorin beschreibt? Eine haushoch gestapelte Heimatlose?

 

Heimat hat viele Gesichter: Als Berlinerin bin ich in meinem Kiez zuhause. Brandenburger in ihren märkischen Dörfern und Städten. Heimat – das ist der Kirchturm vor der Tür. Der Bäcker, der nebenan die Brötchen verkauft. Der Hund des Nachbarn. Die eigene Hymne bei der EM. Manchmal wechselt Heimat ihren Besitzer. Dann ziehen Städter aufs Land und andere verlassen ihre Dörfer. Laut Bibel sind wir alle Heimatlose – Bewohner auf Zeit. Gäste auf diesem Planeten. „Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir,“ heißt es im Hebräerbrief. Die richtige Heimat ist gibt’s erst im Himmel. Und Heimat hier: das sind die Menschen, mit denen wir zusammen leben. Fair und friedlich. In guter Gemeinschaft und vertrauensvoll. Damit Heimat nicht eines Tages zur Hölle wird – wie in „Unterleuten“.

 

[1] Juli Zeh, Unterleuten. München 2016

01.08.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen