Herz und Galle

Wort zum Tage
Herz und Galle
10.10.2018 - 06:20
07.09.2018
Ulrike Greim
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Das war ihr in 28 Dienstjahren noch nie so passiert. Dass sie morgens aufsteht und zur Redaktion radelt, die Treppen hochgeht – immer langsamer. Und dass sie dann Herzdrücken bekommt, wenn sie die Tür zum Großraumbüro aufmacht. Sie findet ihren Job in Ordnung. Hat zwei Preise gewonnen, gute Reaktionen. Immer wieder. Hat sich weitergebildet, immer dazugelernt. Und ihre Haltung war eigentlich geblieben: neugierig, interessiert, aufrichtig und anständig. Es war ihr ein Anliegen, kontinuierlich bei der Wahrheit zu bleiben.

Und nun das. „Ihr seid das Gift dieser Nation“ schreibt der eine. „Ihr seid das System, das stürzen wird. Das Kartell der Lügen“. „Schreibt euch Angela Merkel jeden Morgen, was ihr sagen sollt?!“. Dies und ähnliches. Mehrmals die Woche.

 

Ganz lange hat sie tapfer geantwortet. Ein ums andere Mal. Und manchmal erstaunte Rückantwort erhalten. Im Sinne von „Ja, ich wollte nicht Sie persönlich treffen, aber es ist doch so...“. Und dann seitenweise Fakten und Lügen, echte Argumente und krude Verschwörungsphantasien.

Jeden Tag wenn sie ihren Computer anschaltet und sich den Kaffee holt, wird es ihr schwer ums Herz. Bevor sie die erste Mail eines unbekannten Absenders öffnet, atmet sie einmal tief durch.

Ist es möglich das Herz offen zu halten, wenn andere Galle spucken?

Sie weiß es gerade nicht. Sie macht ihren Job nach bestem Wissen und Gewissen.

Nun einmal mehr. Aber es geht nicht spurlos an ihr vorbei.

Sie ist stiller geworden. Hört mehr zu. Sie ist empfindsamer, braucht mehr Ruhe zwischendrin. Stecker raus. Offline sein.

 

„Das eine ist, dass dir jemand ein Pferd gesattelt vor die Tür stellt,“ sagt ihr die mütterliche Freundin. „Etwas anderes wäre es, wenn du auch noch aufspringst und davongaloppierst. Es wäre immer die falsche Richtung.“

Ja, es ist möglich, unabhängig zu bleiben. Sogar unabhängig von der Wut anderer. Sogar vom Hass.

Wenn sie jetzt in die Tasten tippt, wenn sie ihre Gespräche führt – merkt sie, wie sie tiefer gehen will. Wissen will, woher das kommt. Und was es von ihr will.

„Es kann sein, dass dich die Leute hassen,“ so sagt es die Freundin. „Du bleibe bei dem, was dir wichtig ist: der ruhige Ton, die gerade Haltung, der wache Blick. Wenn es heftig wird, halte dein inneres Gesicht in Gottes Sonne. Sie ist warm. Wo immer du bist.

Du bist frei.“

 

An diesem Tag kommt keine böse Mail. Nur in den Kommentarspalten toben sie sich aus. Da hält sie sich raus. Da ist ihr jedes Wort zu schade. Aber abends, wenn sie zu ihrem Mann kommt, erst recht, wenn er gekocht hat, dann entspannt sie sich. Es ist möglich, ein eigenständiger Mensch zu bleiben. Sich nicht infizieren zu lassen. Und das Herz offen zu halten. Auch, damit es wachsen kann.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.09.2018
Ulrike Greim