Immer auf hoher See

Wort zum Tage
Immer auf hoher See
01.07.2020 - 06:20
25.06.2020
Ulrike Greim
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„6000. So viel dürfen wir behalten. Jeder auf seinem Konto. Die Kinder 2000. Alles darüber wird halbiert.“ Er dachte, er hatte sich verhört. Aber genau so sagte es sein Freund und der hatte für gewöhnlich gute Quellen. Aufruhr am Stammtisch. Alle reden durcheinander. Woher er die Info habe, ob das beschlossen sei, und so weiter. Dann ist es sonnenklar: Wir werden enterbt. Aber immerhin: Die Löhne bleiben wohl auf gleichem Niveau. Auch Renten und so.

Das Gute aber ist: Die D-Mark kommt.

Es ist Mai 1990. Auf allen Ebenen wird verhandelt, wie das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten funktionieren kann. Dann steht fest: Es wird eine Wirtschafts- und Währungsunion geben. Stichtag: 1. Juli.

Er war mit der ganzen Runde hier im Herbst 89 mit auf die Straße gegangen. Nicht als erster. Er war leitender Ingenieur in einem angesehenen Werk in Thüringen. Er musste vorsichtig sein. Aber dann wuchs der Mut und der Druck war schier nicht mehr zum Aushalten. Er ging mit. In die Kirche, wo er betete, dass das gut ausgeht, dann auf den Markt. Die Kerze trug er vorsichtig wie seine Zukunft. Die musste anders werden. Ganz anders. Eine neue DDR. Das wollte er. Eine bessere. Als die Grenzen aufgingen, weinte er. Seine Leute fragten ihn von da an nahezu jeden Tag, was jetzt wird. Wie das mit dem Betrieb weitergeht. Er wußte es nicht.

Der Tumult am Stammtisch legt sich, es wird still. Die Jungs sind jetzt weniger besorgt, mehr euphorisch. Das wird ein neues Leben. Aber: Wird der Osten geschluckt?

Er hat Angst um den Betrieb. Die Produkte sind weltweit gefragt. Beim Design kann man natürlich jetzt aufholen. Das wird gehen. Das muss gehen. Es waren schon Interessenten da. Aber der Betrieb braucht nur Kooperationspartner, keine Käufer.

Er hat Angst, dass alle blind der D-Mark hinterherrennen und nicht wissen, was da dranhängt. Niemals kann die Wirtschaft im Osten mithalten. Das muss Erdrutsche geben.

Lasst euch doch nicht blenden, sagt er in der Runde. Hier weiß keiner, ob wir das überleben.

Der Staat zerbröckelt, die Wirtschaft hängt am seidenen Faden westlicher Politik. Du bist auf hoher See. Du weißt nichts.

Die anderen diskutieren weiter, er bleibt still. Wenn die Wellen hochschlagen, wenn sie bis an meine Kehle gehen, reiß du mich raus, Gott.

Heute, 30 Jahre später sagt er, dass es noch aufregender kam, als befürchtet. Eine Welle von hier – der Betrieb wird zerschlagen, 15.000 von 25.000 Beschäftigten arbeitslos, eine Welle von da – sie gründeten Firmen neu. Eine weitere von hier – Jointventure da, Ausgründung hier, Umwidmung da. Die Kerze aus der Kirche von damals hat er noch. Es ist eine Illusion zu meinen, wir hätten unser Leben in der Hand. Haben wir nicht. Wenn wir uns von der Idee verabschieden können, wird es leichter, sagt er. Gott ist groß und unergründlich.

25.06.2020
Ulrike Greim