Kapelle der Versöhnung

Wort zum Tage
Kapelle der Versöhnung
09.11.2017 - 06:20
01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese
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Das Foto ging um die Welt. Vom DDR-Soldaten, der kurz nach dem Mauerbau über den Stacheldraht in den Westen sprang. Es entstand in der Bernauer Straße mitten in Berlin. Die Häuserfront gehörte nach der Teilung zu Ostberlin, der Bürgersteig aber zu Westberlin. Viele Menschen sprangen damals aus ihren Wohnungsfenstern, um zu flüchten. Die Bernauer Straße wurde für sie zur Straße in die Freiheit.

 

Heute befindet sich hier die zentrale Mauer-Gedenkstätte, 220 Meter Mauer sind erhalten, es werden Fotos der ehemaligen Grenzanlagen und Filme gezeigt. Einheimische und Touristen schlendern im Dokumentationszentrum und unter freiem Himmel hier entlang und erfahren Historisches und bewegende persönliche Geschichten.

 

Im Herzen der Gedenkstätte, mitten auf dem ehemaligen Todesstreifen, steht die Kapelle der Versöhnung. Ein runder Bau mit 90 Plätzen und einer kommunikativen Atmosphäre, lichtdurchflutet. Wo heute die Kapelle steht, wurde zu DDR-Zeiten eine neugotische Kirche gesprengt, um im Grenzbereich ein freies Schussfeld zu haben. Der heutige schlichte Bau, der keine Heizung hat und aus Lehm besteht, strahlt Ruhe und Erdverbundenheit aus. Die Glocken des alten Gotteshauses und den Altar gibt es noch. Die einzelnen Pfeifenfamilien der neuen Orgel sind jeweils den früheren vier Mächten in Berlin gewidmet: Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien. Die Töne, die heutzutage hier erklingen, sollen Versöhnungsklänge sein.

 

Jeden Mittag halten der Pfarrer oder engagierte Freiwillige Andachten für die Opfer an der Berliner Mauer. Sie wollen den Schicksalswegen der einzelnen Menschen nachgehen. Dazu lesen sie eine Lebensgeschichte vor. Oder das, was davon in mühevoller Kleinarbeit aus alten Akten oder aus Gesprächen mit Angehörigen rekonstruiert werden konnte. Alle diese 138 Biographien sind in einem Totenbuch im Altar aus Lehm aufbewahrt. Und darauf liegt die Bibel mit den Geschichten von Gott und seinen Menschen. Zu Beginn jeder Andacht erklingt das alte Gebetslied der Bibel, in dem es um die große Wandlung geht: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“, heißt es in Psalm 126.

 

Wer hier als Besucher sitzt und den Worten und Klängen lauscht, ist bewegt. Und auch Touristen, die kein Deutsch sprechen, merken, dass in dieser Viertelstunde etwas passiert. In der Stille wird eine Kerze entzündet. Momente voller Tiefe gibt es in der Kapelle der Versöhnung auf dem Mauerstreifen in Berlin. Manchmal sitzen Menschen mit Tränen in den Augen oder wollen nach der Andacht reden. Wer aus der Kapelle kommt, und draußen den weiten Himmel sieht, spürt, wie Erinnerung auch Zukunft und Hoffnung bedeuten kann.

01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese