„Ketzerische Gedanken“

Wort zum Tage
„Ketzerische Gedanken“
18.08.2015 - 06:23
23.06.2015
Pastor Diederich Lüken

Ein jüdischer Schüler bat seinen Rabbi um ein Gespräch. „Ich habe immer so ketzerische Gedanken“, sagte er. – „So“, antwortete der Rabbi, „was für Gedanken sind das denn?“ Der Schüler druckste eine Weile herum, und dann brach es aus ihm heraus: „Mal angenommen, Rabbi, es gibt gar keinen Gott. Dann ist doch alles sinnlos.“ – „Was soll dann sinnlos sein?“ – „Nun, meine Ausbildung, die Heilige Schrift, der Talmud, das ganze Leiden, das ganze Leben, – alles sinnlos!“

 

Der Rabbi dachte eine Weile nach, dann antwortete er: „Wenn das, mein lieber Freund, dabei herauskommt, wenn du nachdenkst, dann denke nur weiter nach!“ Damit war das Gespräch beendet. Der Rabbi war offensichtlich der Meinung: Wenn jemand darauf kommt, dass ohne den Glauben an Gott das ganze Leben sinnlos ist, dann wird er den Glauben niemals loslassen. Doch was für den Rabbi undenkbar war, vollzieht sich in unserer Gegenwart unablässig. Es scheint für viele Menschen endgültig festzustehen: Es gibt keinen Gott, und der Glaube ist eine Illusion. Damit verbindet sich für viele die Schlussfolgerung: Dann ist das Leben hier und jetzt das einzige, das zu erwarten ist, und wenn es zu Ende ist, dann ist es eben zu Ende. Darüber hinaus ist nichts zu hoffen. Diese Schlussfolgerung scheint mir unabweisbar zu sein. Aber das macht vielen offenbar nichts mehr aus; sie leben ganz wunderbar damit. Sie essen und trinken, arbeiten und feiern fröhlich, und tun das alles nach meiner Beobachtung unter dem Horizont der Sinnlosigkeit. Manche erleben es sogar als Befreiung.

 

Wenn Bertolt Brecht seinen Großen Dankchoral anstimmt, klingt das so: „Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels! / Und dass er nicht / Weiß euren Nam' noch Gesicht. / Niemand weiß, dass ihr noch da seid. – Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! / Schauet hinan: / Es kommt nicht auf euch an / Und ihr könnt unbesorgt sterben.“[1] Allerdings höre ich in diesen Zeilen einen Sarkasmus, den ich als geheimen Protest gegen die Sinnlosigkeit empfinde. Brecht preist die Sinnlosigkeit des Lebens, gewiss – aber dass er das tut, scheint ihm doch nicht sinnlos zu sein; sonst würde er es doch nicht tun! So steht hinter jedem Tun unausgesprochen die tiefe innere Überzeugung, dass es Sinn hat. Niemand vermag so zu leben, als wenn das Leben überhaupt keinen Sinn hätte. Wenn ich frühmorgens aufstehe, zeige ich damit: Es hat Sinn, frühmorgens aufzustehen. Indem ich tue, was zum Leben nötig ist, beweist sich mir, dass das Leben einen Sinn hat. Für diesen Lebenssinn danke ich jemandem, der größer ist als ich mit meinen kleinen Leben. Dieser Größere, der den Sinn stiftet, das ist für mich Gott.

 

[1] * Bertolt Brecht, Großer Dankchoral, aus: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Band 8, Gedichte I, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967, Seite 216 (8 Zeilen)

23.06.2015
Pastor Diederich Lüken