Kirche der Angst

Wort zum Tage
Kirche der Angst
18.07.2020 - 06:20
25.06.2020
Hannes Langbein
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Es war ein verstörender Anblick, ich habe es noch genau vor Augen: Das Röntgenbild zweier Lungenflügel in einer goldenen Monstranz, in der sonst die geweihte Hostie gezeigt wird. Das Bild schwebt, ins Überlebensgroße vergrößert, hoch über dem Altar, auf dem sich ein Kreuz und ein Hase befinden. Um den Altar eine Schar von Zelebranten, deren Tun nicht ganz entschlüsselbar ist. Aus dem Off hören wir eine flehentliche Stimme: „Ich will das nicht! Ich will das alles nicht!“

Wir sind in einer Theaterinszenierung, in einer Rauminstallation von Christoph Schlingensief. Der Regisseur und Performance-Künstler starb vor zehn Jahren an einer Krebserkrankung. „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ nannte er eines seiner letzten Stücke, in dem er sich mit seiner Erkrankung auseinandersetzte – die Regie teils vom Krankenhausbett aus. Das „Fremde in mir“ war der Krebs, den Schlingensief mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – auch mit der Kunst - bekämpfte. Die Röntgenlunge in der Monstranz als Sinnbild seiner Erkrankung in einem Gefäß des Heils. Die bange Frage: Wer kann helfen? Woher kommt uns Hilfe?

In seinem Krankentagebuch mit dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ setzt sich Schlingensief mit seiner Erkrankung auseinander. Schonungslos geht er mit sich und Gott ins Gericht: „Mein Gott, was für gigantische Kraftwerke von Leiden fliegen hier rum, das ist doch unglaublich! (…) Da kann man doch nicht einfach nur die Mutter Gottes als leuchtende Christbaumfigur runterschicken, da muss man doch ganz anders rangehen.“ Schlingensief ist streng katholisch aufgewachsen: Seine Eltern in Oberhausen knieten und beteten vor dem Fernseher, wenn die Messe lief. Der Fernseher als Monstranz. Jetzt schreit Schlingensief wie der Psalmbeter zu seinem Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

„Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt“, sagte einst Joseph Beuys – und Christoph Schlingensief setzt es in die Tat um: In seiner Installation „Kirche der Angst“ baut sich Schlingensief seinen eigenen Kirchenraum, eine überdimensionale Monstranz, einen Resonanzraum, in dem die Angst und der Zweifel sichtbar und hörbar werden. Man möchte sich verneigen vor so viel Mut und so viel Klarheit. Eine Kirche als Resonanzraum der Angst vor dem Fremden in uns. Eine Kirche als Transformationsraum der Angst vor dem Fremden in uns. Nicht nur in unserem Körper. Auch in unserer Seele – und in unserer Gesellschaft.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

25.06.2020
Hannes Langbein