Rühr mich an

Wort zum Tage
Rühr mich an
03.12.2020 - 06:20
03.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig
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Wer jetzt ins Krankenhaus muss, hat es doppelt schwer: Anstrengende Untersuchungen, eine Operation, ungewohnte Umgebung und schnarchende Bettnachbarn kosten Kraft. Aber was fast noch schwerer wiegt: Besuch von vertrauten Menschen ist streng reglementiert. Sicher schützen die Corona-Regeln unsere Kranken. Aber wer spricht Mut zu, wer hält die Hand?

Bevor die 80jährige Dame ins Krankenhaus geht, offenbart sie ihre Sorgen einer Nachbarin: „Natürlich habe ich auch Angst vor der OP. Aber bei der Vorstellung, dass ich dort ganz allein bin, wird mir ganz kalt.“ Wer könnte das nicht verstehen? Die Nachbarin denkt nach. „Wir finden eine Lösung“, verspricht sie. Selbst kann sie nicht helfen, aber vielleicht würde ihre Nichte einspringen? Die beiden kennen sich ja, wenn auch nur flüchtig.

Zwei Tage nach der OP steht die Nichte der Nachbarin am Bett der alten Dame, Blumen in der Hand. „Ach, wie schön, dass Sie da sind! Ich brauche eigentlich nichts, aber…würden Sie mich mal in den Arm nehmen?“ Zum Glück hat die junge Frau gerade einen Test machen lassen. Die kurze Besuchszeit verbringen die beiden Arm in Arm, Hand in Hand. Sie reden gar nicht viel und die Jüngere spürt, wie die Kranke die Berührungen aufsaugt wie ein trockener Schwamm. Als sie ihr über die Wangen streicht, schließt die alte Dame ihre Augen und seufzt: „Das tut so gut! Ich wusste gar nicht, wie sehr mir das gefehlt hat.“

Ja, Berührungen sind wichtig. Lebenswichtig sogar. Manchmal hilft aber auch schon ein inneres Bild, selbst wenn die Verzweiflung groß ist. Eines der für mich anrührendsten Bilder stammt vom Propheten Jesaja. Er spricht den Israeliten, die ins Exil gezwungen wurden, Mut zu: „Gott spricht: Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes 66,13) Zu allen Zeiten haben sich Menschen, die Schlimmes erlebt haben und mit Einsamkeit fertig werden mussten, an diesem leuchtenden Bild aufgerichtet. Ihre Gebete richten sie an einen Gott, der wie eine liebevolle Mutter die Arme ausbreitet und den Beter warm und weich umfängt. Sage niemand, dass eine solche Vorstellung nur Illusion sei! Starke innere Bilder sind ein Schatz, der hilft, mit der eigenen Seele in Kontakt zu bleiben. Neurophysiologen wissen: Unser Organismus reagiert auf innere Bilder fast ebenso empfindsam wie auf die äußere Realität.

Ja, Corona erzeugt Abstand. Zu anderen Menschen und manchmal sogar zur eigenen Seele. Aber wir können Brücken bauen: Mit Hilfsbereitschaft und kleinen Gesten und mit guten inneren Bildern. Sie helfen auch in Corona-Zeiten, Einsamkeit zu lindern: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“

03.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig