Leben retten mit einem Pfiff

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Terence Burke

Leben retten mit einem Pfiff
mit Pfarrer Michael Becker
13.06.2022 - 06:20
14.01.2022
Michael Becker
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Ich hätte ihm danken müssen, sagt Robert heute, siebzig Jahre später. Ich hätte ihm danken müssen. Er ist mein Held, und ich habe ihm nie Danke gesagt. Dann erzählt Robert vom Winter 1946/47: Viel Schnee und Frost von Ende Oktober bis März. Manchmal minus 20 Grad, und das kurz nach dem Krieg. Unser Land lag in Trümmern. Es gab nichts zu essen, nichts zu heizen. Man wühlte in Abfällen, kochte Kartoffelschalen, lag dick angezogen im Bett. Eisblumen an den Fenstern, manchmal auf der Bettdecke. Bäume wurden zum Heizen abgehackt, Gartenzäune auch. Und ich mittendrin, sagt Robert.

          Da ist er acht Jahre alt und geht zur Schule. Nach der Schule mussten wir Kinder Kohlen aufsammeln, erzählt er. Es fuhren noch Kohlezüge. Hinter unserem Dorf war ein Signal. Bei Rot mussten die Kohlezüge halten. Dann kletterten wir Kinder auf die Wagen und warfen Kohle runter in den Schnee. Andere Kinder sammelten das auf. Der Lokführer wusste das. Er stand in seiner Dampflok. Dort war es warm. Er schaute an seinem Zug entlang und sah, wie die großen Kinder Kohlen runterwarfen, die von den kleinen aufgesammelt wurden. Jeden Tag. Manchmal zwei Minuten, manchmal fünf. Wenn das Signal dann Grün wurde, musste der Zug weiterfahren. Das tat er aber nicht. Erst ließ der Lokführer einen langen Pfiff ertönen. Das hieß: Kinder, macht euch runter vom Wagen, sonst müsst ihr zehn Kilometer mitfahren und dann nach Hause laufen. Bei Eiseskälte. Der Pfiff war Zeichen für uns Kinder, vom Wagen zu springen.

          Ich hätte ihm danken müssen, sagt Robert heute, siebzig Jahre später. Aber was weiß man als Achtjähriger… Jetzt kommen ihm ein paar Tränen, als wäre das gestern gewesen. Robert schaut auf seine Finger, die heute weich sind und warm. Nicht kohlrabenschwarz wie damals. Der Lokführer hieß Fritz, sagt Robert. Er hätte uns anzeigen können. Er hätte nicht warnen müssen vor dem Weiterfahren. Er hat uns das Leben gerettet mit dem Pfiff seiner Lok. Hat uns einen warmen Abend geschenkt. Er ist mein Held, sagt Robert. Wenn meine Stube warm ist und ich abends meine Hände falte, bitte ich Gott, er soll Fritz im Himmel ein schönes, gemütliches Plätzchen geben. Und ein warmes. Dann will ich ihm zuwinken. Wie damals. Vielleicht auch mal pfeifen.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

14.01.2022
Michael Becker