Löwe

Wort zum Tage
Löwe
18.06.2018 - 06:20
07.03.2018
Hannes Langbein
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„Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb.“

 

Der Philosoph Hans Blumenberg saß in seinem Arbeitszimmer und konnte seinen Augen nicht trauen: Drüben, auf der anderen Seite seines Schreibtisches, nur wenige Meter von ihm entfernt, saß eines schönen Tages und ohne Vorankündigung ein Löwe. So wie man sich einen Löwen vorstellt: Mit einem massigen, aber eleganten Körper, gelb-grauem Fell. „Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend. Unzweifelhaft ein Löwe.“

 

So beschreibt es die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Vor einigen Jahren hat sie den realen Philosophen Hans Blumenberg zu ihrem Romanhelden gemacht: Blumenberg, Philosophieprofessor in Münster, hatte sich ein Gelehrtenleben lang das Denken als eine Art Abstandshalter zwischen Mensch und Natur vorgestellt: Als überlebenswichtige Fähigkeit des Menschen, sich die rohe Natur vom Leib zu halten und sie in geordnete Bahnen zu lenken. Nun sah sich der Philosoph selbst mit einer Naturgewalt konfrontiert – und das ausgerechnet in seinem Arbeitszimmer, dem Hort seines Geistes. – „Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb.“

 

Blumenberg war sich nicht ganz sicher, was er mit dieser Erscheinung anfangen sollte. Denn einerseits ging von seinem besonderen Gast unzweifelhaft eine gewisse Bedrohlichkeit aus. Andererseits wusste er von Löwenbesuchen, die weniger einer Bedrohung als vielmehr besonderen Ehrenerweisen Gottes gleich kamen: War nicht der heilige Hieronymus, der berühmte Bibelübersetzer des 4. Jahrhunderts, in seiner Schreibstube immer mit einem Löwen künstlerisch dargestellt worden? Und wurde nicht der Evangelist Markus gegenüber den drei anderen Evangelisten als Löwe dargestellt? – Nicht zuletzt der alttestamentliche Prophet Daniel hatte sich Dank seines besonders großen Glaubens mit Löwen anfreunden können:

 

„Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, sodass sie mir kein Leid antun konnten“, sagt Daniel über die außergewöhnliche Begegnung. Irgendeine Art von Glauben musste sich der Philosoph Blumenberg also zuzurechnen haben. Denn der Löwe blieb ganz friedlich auf seinem Platz und begleitete Blumenberg in den folgenden Tagen sogar bei seinen Spaziergängen durch die Stadt und bis in den Hörsaal. Vielleicht also doch ein Ehrenerweis Gottes? – In jedem Fall eine Begegnung, die das Zeug dazu hatte, Blumenbergs Denken aus den Angeln zu heben. Denn gegen alle Erwartung ließ es sich mit dem Löwen, einem Sendboten des Fremden, leben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.03.2018
Hannes Langbein