Mensch, wo bist du?

Wort zum Tage
Mensch, wo bist du?
11.03.2019 - 06:20
07.02.2019
Melitta Müller-Hansen
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Er ist damals 12 Jahre alt. 1938, in München, kurz nach der Pogromnacht, geht er zu der Wiese, wo er sonst immer mit seinen Freunden Fußball spielt. Aber diesmal ist alles anders. Sobald er auftaucht, hören sie auf zu spielen, schauen ihn an und schweigen. Gespenstisch. Jetzt wissen sie‘s, denkt er – Joelsen, Halbjude. Der Naziortsgruppenleiter hatte ihre Eltern zu sich zitiert. „Eure Kinder haben keinen Kontakt mehr zu diesem Halbjuden.“ Und die Eltern haben pariert. „Für einen 12-jährigen eine Katastrophe“, erinnert sich Walter Joelsen. Auf einen Schlag alle Freunde zu verlieren. Beschämt zu werden. Isoliert, allein. Doch er findet einen neuen Zufluchtsort: die Christuskirche im Münchener Westen. Kindergottesdienst, Konfirmandengruppe, Jugendgruppe. Und – er findet wieder Freunde.

1943 sagt der Direktor des Wittelsbacher Gymnasiums sagt: „Es ist eine Verordnung gekommen, Du darfst keine Schule mehr besuchen.“ Walter bekommt beim Kirchengemeindeamt München eine Anstellung: zur Begleitung von evangelischen Jugendgruppen im Münchner Westen. Ein Jahr später – Zwangsarbeitslager der Gestapo in Thüringen. Kies in Eisenbahnwaggons schaufeln, täglich 6, 8, 10 Stunden. Walter ist mittlerweile 18. Sie arbeiten hinter einem Drahtzaun, von außen gut einsehbar. Da kommen Schulkinder vorbei. Sie wissen, wer da arbeitet und werfen Steine über den Zaun. Dann kommt eine Ordensschwester vorbei. Auch sie weiß, wer da arbeitet. Sie wirft Brot über den Zaun.

Was ist der Mensch? Walter Joelsen sagt, dass er seit der Pogromnacht 1938 begriffen hat, dass es beide gibt: Die, für die er Mensch ist, geeignet zu Freundschaft, Kollegenschaft, Liebe, und jene, für die er immer der sogenannte Halbjude bleibt, eben anders, nicht ohne Weiteres geeignet zu Freundschaft, Zuneigung. Auch nach dem Krieg ist es lange so geblieben.

Wenn er als Zeitzeuge seine Geschichte in Schulen erzählt hat, haben Schüler immer wieder gefragt: „Haben Sie Angst, dass das wieder passiert?“ Seit einiger Zeit antwortet er anders als vorher: „Ja, ich habe Angst und erlebe, sie sind längst wieder unter uns, die nicht sagen: Ich Mensch – Du Mensch; sondern die sagen: Ich Deutscher – Du Syrer. Ich weiß – Du schwarz. Ich Christ –Du Moslem; Du Jude..“ Ja, er habe Angst vor denen, die diesen wunderbaren geschwisterlichen Begriff Mensch vergessen.

 „Mensch, wo bist du?“ So fragt Gott in der Schöpfungsgeschichte. Und so fragt in diesem Jahr die Woche der Brüderlichkeit – mit vielen Begegnungen zwischen Juden, Christen, Muslimen. Zwischen Menschen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.02.2019
Melitta Müller-Hansen