Noah schweigt

Wort zum Tage
Noah schweigt
04.08.2015 - 06:23
23.06.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Die Geschichte von der Sintflut ist eine der düstersten Geschichten der Bibel.  40 Tage und 40 Nächte heftiger Regen – alles geht unter, nur ein Mensch mit seiner Familie überlebt. Das Urbild der Katastrophe. Wir stoßen auf einen Menschen, der die ganze Zeit schweigt. Die Flut wird von Anfang bis Ende genau dokumentiert, wir erfahren die genaue Anzahl der Regentage, Wasserstandsmeldungen, wir bekommen Einblick in das innerste Wesen Gottes, seine Gemütslage und seine Überlegungen; und hören die Anweisungen, die er Noah erteilt. Doch von  diesem selbst kein Wort. Nicht einen Satz. Schon seine Auserwählung nimmt er schweigend hin, während Gott den Untergang der anderen beschließt und nur den gerechten Noah, seine Frau, seine Familie und eine große Schar von Tierpaaren zu retten gedenkt. Warum nur schweigt Noah? Ist er einer ohne Wärme, ohne Mitgefühl, allein auf die Sicherheit seiner Familie bedacht? Warum nur soll Noah ein Gerechter genannt werden? – fragen sich die jüdischen Theologen. Nichts, was wir aus dieser Geschichte erfahren, qualifiziert ihn dazu. Noah schweigt und wird sich am Ende bis zur Bewusstlosigkeit betrinken. Und wer schweigt stimmt zu, oder?

 

Ich sehe in Noahs Schweigen die ungeheure  Fähigkeit von uns Menschen, unsere Kraft zu bündeln und uns Herausforderungen zu stellen, die  übermenschlich sind. So nüchtern wie Noah die Anweisungen in die Tat umsetzt, einen Überlebenskasten zu bauen, so nüchtern sehe ich Menschen Katastrophen bewältigen: in Syrien packen sie ihre Habe zusammen, verlassen ihre zerrissene Heimat und gehen in eine ungewisse Zukunft. Ist ein Land von Überschwemmungen oder Erdbeben heimgesucht, geht die ganze Maschinerie in unserer Welt los, um Rettung zu organisieren. Und bekommt ein Mensch die Diagnose einer schweren Krankheit, muss er sich ihr stellen.  Man wird kleiner, man wird stiller und tut das Nächstliegende, baut an seinem Überlebenskästchen. Elie Wiesel, ein Überlebender des Holocaust, erklärt es so: „Nie zeigt (er) Noah Anzeichen von Panik, nie bekundet er Zweifel oder Angst. Er führt sein kleines schwimmendes Königreich an und geleitet es sicher in den Hafen… Hätte (Noah) er nur einmal geweint, hätte er nicht aufhören können. Niemals mehr…“.[1]

 

Behutsam sein mit Überlebenden – das lehrt mich Noahs Schweigen. Ihre Sprachlosigkeit zu deuten wissen, ihre Bürde verstehen, ihre Leistung würdigen. Mit ihrer großen Sensibilität rechnen. Und dass in diesem Schweigen die gegenwärtig sind, die nicht zu den Überlebenden gehören.

 

[1] aus: Elie Wiesel, Noah oder die Verwandlung der Angst. Biblische Porträts, HERDER spektrum, Band 4878, S. 28

23.06.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen