Nur mit Worten bekleidet

Wort zum Tage
Nur mit Worten bekleidet
13.04.2015 - 06:23
30.03.2015
Pastor i.R. Dietrich Heyde

Milo Moiré, eine 31-jährige Künstlerin, fuhr in Basel mit der Straßenbahn zur Kunstmesse „Art Basel“ und sorgte für Aufsehen, weil sie (so hieß es in der Presse) nur „mit Worten bekleidet“ war.[1] Nur die Namen der Kleidungsstücke, die sie jeden Morgen anzieht, waren in großen Buchstaben auf ihren nackten Körper geschrieben.

Ich musste, als ich das las, an den Propheten Jesaja denken. Der war auch nur mit Worten bekleidet. Allerdings nicht mit eigenen Worten, sondern mit Worten aus Gottes Mund. Denn Gott hatte ihm geboten, nackt und barfuss zu gehen. Drei Jahre lang. Die biblischen Propheten kannten also und praktizierten schon vor zweitausendachthundert Jahren, was heute „Performance“ genannt wird – die „Sprache“ der Gebärden, Bilder und Zeichenhandlungen. Damals sollte der Prophet seinen Zeitgenossen sichtbar vor Augen führen, dass Israel gefangen genommen und nackt und barfuss ins Exil gehen muss. (Jesaja 20)

 

Und was wollte die Künstlerin mit ihrer Zeichenhandlung ausdrücken? Warum zeigte sie sich nackt in der Öffentlichkeit?

Der unbekleidete Mensch, sagt Milo Moiré, sei Symbol für das, was uns heute schmerzlich fehlt – Wachsamkeit und Verantwortung. Die nämlich versteckt der Mensch mal unter Gleichgültigkeit, mal unter Entrüstung. Die Künstlerin erklärt: „Jeder von uns kennt die wiederkehrenden, stereotypen Handlungsabfolgen, nach denen wir Tag für Tag funktionieren. Besonders früh morgens auf dem Weg zur Arbeit funktionieren wir fast automatisch, meist ohne Bewusstsein für unsere Umwelt. Diese Alltagsblindheit wollte ich durch meine Performance durchbrechen.“

 

Milo Moiré hat mir mit ihrer Performance gezeigt, worauf es im christlichen Glauben ankommt. Sich der eigenen Kleidung entledigen, um Gottes Wort anzuziehen. Jeden Tag das Eigene loslassen, leer werden, nackt sein, um mit Wachsamkeit und Verantwortung füreinander bekleidet zu werden.

Denn das ist es, was der Apostel empfiehlt, wenn er sagt: „So zieht nun an als die Geliebten Gottes Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld“. (Kolosser 3,12) Über alles aber zieht die Liebe an (Kolosser 3,14). Ganz leibhaftig und jeden Morgen neu.

 

[1] Schleswiger Nachrichten 20.06.2014

30.03.2015
Pastor i.R. Dietrich Heyde