Primirenie, Versöhnung

Wort zum Tage
Primirenie, Versöhnung
28.04.2018 - 06:20
07.03.2018
Thomas Jeutner
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Der Morgen ist noch frisch, Tau hängt an den Zweigen der Linde. Durch die Ahornbäume, die auf dem Friedhof stehen, blinzelt die Sonne. Von den ehemaligen Grenzanlagen der Berliner Mauer sind an dieser Stelle nur noch ein paar hundert Meter Betonplatten übrig geblieben. Sie stehen unter Denkmalschutz. Trotzdem hat irgendjemand die alte Grenze bemalt. Ein Gesicht aus Blumen ist zu sehen. Und Herzen, aufgetragen mit roter, gelber und grüner Farbe. „Lina und Emma“, hat jemand dazu geschrieben.

Jetzt, am Morgen, sind noch keine Touristen da. Aber nach und nach kommen Einheimische durch die kleine Pforte, die zu unserem Garten führt. Sie haben sich an diesem Samstag verabredet, zum Arbeitseinsatz. Den Garten nennen wir „Niemands Land“, denn er gehört niemandem allein. Die ganze Gemeinschaft der ehrenamtlich Aktiven arbeitet hier – und freut sich an der grünen Insel mitten in der Großstadt.

Dass sie Einheimische sind, ist nicht ganz richtig ausgedrückt. Die meisten sind „Zwei- oder Dreiheimische“. Ihre Heimaten liegen manchmal auf verschiedenen Kontinenten. Li, die hier Zucchinis anbaut, kommt aus China. Karl, der Imker, schaut nach den Bienen und hat seinen syrischen Imker-Freund mitgebracht. Jürgen, der Obstbauer, lebt schon Jahrzehnte in Berlin. Er teilt die Gemeinschaftsaufgaben ein an diesem Morgen, in freundlichstem Sächsisch. Metin, Berliner in zweiter türkischer Einwanderer-Generation, fährt mit der Schubkarre Komposterde zu den neu angelegten Beeten. Tamara, die noch zu DDR-Zeiten aus Moskau in diese Gegend zog, hat auf ihrem Gaskocher schon Tee zubereitet. Sie stellt die Pelmeni bereit, die sie zu Hause gebacken hat.

Dieser Garten auf der Grenze hat früher im sowjetischen Sektor der geteilten Stadt gelegen. Dem Honig, den unsere Bienen hier auf dem einstigen Todesstreifen zusammen tragen, haben wir deshalb einen russischen Namen gegeben: „Primirenie. Versöhnung“.

Wir kennen alle den Mauer-Erinnerungsort an der Bernauer Straße und seine Geschichte. Und wir mischen unsere eigenen Geschichten hinein. Wir erzählen sie uns, beim Gärtnern und zum zweiten Frühstück unter der Linde. So eine Szene, denke ich, könnte der Dichter vom 133. Psalm vor Augen gehabt haben, als er seine berühmten Zeilen schrieb von einem neuen Miteinander der Menschen: „Siehe, wie fein und lieblich ist's, wenn Schwestern und Brüder einträchtig beieinander wohnen!“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.03.2018
Thomas Jeutner